Sorry für diesen viel zu langen Beitrag, aber ich möchte auch nach dem zweiten Gegenlesen nichts mehr kürzen, weil ich finde, dass alles Folgende miteinander zusammenhängt und sich mitunter gegenseitig verstärkt und im Zweifelsfall könnt ihr ja (falls ihr den ein oder anderen Gedanken spannend genug findet) gucken, ob und wie man das in den nächsten Wolfsburg-Schwerpunkt einbauen kann.
Man kann jetzt viel über Kohfeldt oder die Spieler herziehen und kritisieren und alles, aber wir sind uns doch hoffentlich alle einig, wenn ich sage, dass man sich vor der Saison diesen Kader angeguckt hat und gesagt hat, dass das einer der 4-5 besten Kader der Bundesliga ist. Ich stehe auch weiterhin dazu, den Kader auf dem Papier leicht stärker als den von z.B. Leverkusen eingeschätzt zu haben, weil ich dort Schwächen links hinten und zentral hinten sehe, die ich Wolfsburg vor der Saison so nicht attestiert hätte. Man darf bei der Analyse der jetzigen Situation aber auch nicht außer Acht lassen, dass in der letzten Saison mit Frankfurt, Leverkusen und Gladbach die potentesten Konkurrenten um den 4. CL-Platz im Verlauf der Rückrunde allesamt implodiert sind und der SGE z.B. ein Sieg gegen Schalke gereicht hätte, um an den Wölfen vorbeizuziehen. Auch diese Saison deutet mal wieder darauf hin, dass 3 CL-Plätze zementiert sind (falls Leipzig es dieses Mal nicht schafft, wäre das die Ausnahme, die Dortmund vor ein paar Jahren mit dem 7. Platz auch schon erlebt hat), das Rennen um den 4. Platz in den letzten Jahren häufig aber maßgeblich von Faktoren wie Team-Stimmung, mittelfristiger Entwicklung einer Spielidee, Stabilität in den Leistungen und Ergebnissen sowie (ausbleibendem) Verletzungspech entschieden wurde.
Ich will bei Wolfsburg mal ein paar völlig willkürlich ausgewählte Eckdaten nennen und versuchen, diese in eine Arbeitsthese münden zu lassen: Man hat die meisten Karten in der Liga kassiert - das kann eine Frage der (geistigen und körperlichen) Frische sein, dass man den Schritt zu spät kommt, es kann am System liegen, es kann auch an einer zu negativen oder zu ambitionierten Einstellung zum Spiel liegen, wobei überharte Aggressivität nicht das ist, was sich mit meinen Eindrücken von Wolfsburg deckt, sondern tendenziell eher das zu späte Reagieren auf eine Situation.
In der letzten Saison hatte man unter Glasner 7 Spieler, die über 75% der Bundesligaspiele in der Startelf standen und 5 weitere Spieler, die sich um die 60% Startelfquote bewegt haben - also recht gut zu sehen, dass Glasner seine Elf gefunden hat und die Hierarchie innerhalb der Kabine relativ klar geregelt war. Egal, ob man nun Verfechter der Rotation oder des festen Stamms ist, kann man beobachten, dass es in dieser Saison „nur“ 5 Spieler sind, die über 75% der Bundesligaspiele als Starter absolviert haben und 5 weitere Spieler, die in ca. 60% der Bundesligaspiele gestartet sind, gefolgt von 6-7 Spielern, die regelmäßig raus- und mal wieder reinrotiert werden (darunter viele Neuzugänge wie Waldschmidt, Vranckx etc.). Da spielt natürlich die CL sowie ein Trainerwechsel mit rein und ich rede über Statistiken nach 16 Spieltagen, also muss man das selbstredend mit Vorsicht genießen, was man hier wie miteinander vergleicht. In dieser Saison hat man allerdings de facto die ersten drei Ligaspiele mit derselben Startelf bestritten und seitdem kein einziges Mal mehr eine Startelf zweimal hintereinander gebracht.
Der für mich eklatanteste Aspekt bei Wolfsburg ist der, dass mit Lacroix und Weghorst zwei für jeden Betrachter offensichtliche Starspieler mit Einfluss in der Kabine im Sommer eigentlich schon wechseln wollten und es bedarf nicht viel Fantasie, dass die Teilnahme an der Champions League das wahrscheinlich einzige ausschlaggebende Argument für beide war, noch ein (halbes) Jahr dranzuhängen. Jeder darf mir an dieser Stelle gern widersprechen, aber obwohl beide Spieler weiterhin ordentliche statistische Werte vorweisen können, wirkt auf mich keiner der beiden in dieser Spielzeit, als wäre er in derselben bestechenden Form wie in der abgelaufenen Saison.
Sowieso ist die Frage erlaubt, welcher Wolfsburger Spieler die Form aus der vergangenen Saison konservieren konnte. MMn ist jeder einzelne Spieler, der schon letztes Jahr da war, schwächer, als in der Vorsaison, und ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein schlechter Trainer alleine reicht, um 15-20 Spieler unisono schlechter zu machen. Hierzu noch der Hinweis darauf, dass es Wolfsburg seit der Meisterschaftssaison nur einmal (2014 und 2015) gelungen ist, sich in zwei aufeinander folgenden Jahren für das europäische Geschäft zu qualifizieren.
Meine Arbeitsthese als work in progress zum Thema „Was läuft in Wolfsburg eigentlich falsch?“ lautet: Jedes Mal, wenn Wolfsburg es geschafft hat, sich über 2-3 Saisons ein funktionierendes Team aufzubauen und man endlich mal erfolgreich ist, reißt man es sich postwendend völlig ohne Not wieder ein und gibt dabei noch jedem Spieler eine Ausrede mit an die Hand.
Dieses Mal bestanden die Zutaten des Erfolgsrezepts aus einer festen Stammelf ohne große Rotation, einer im Bundesligavergleich relativ sicheren Trainerstelle (Labbadia und Glasner als Wegbereiter des diesjährigen Einzugs in die CL) und einem biederen, aber disziplinierten Spiel vor allem gegen den Ball. Das ist nicht für jeden Verein in jeder Situation das Erfolgsrezept, aber in diesem konkreten Fall hat das den VfL 2020 besser gemacht als z.B. den VfL 2017. Und was macht man daraus? Ich glaube schon, dass es eine Kabine stimmungstechnisch überfordern kann, wenn man von gefühlten 0% Rotation auf 100% Rotation innerhalb eines halben Jahres wechselt (und selbst falls nicht, haben die Spieler immer noch die Ausrede, dass ihr bewährtes Leistungsprinzip ausgehebelt wird oder dass dadurch die Abläufe ja unmöglich stimmen könnten); dann kann es eine Kabine sicherlich überfordern, wenn man nach zwölf Wochen mit dem einen Trainer direkt den nächsten Trainer installiert, von dem aber jeder weiß, dass er bei Wolfsburg im Sommer schon höchstens Zweite Wahl war. Und es überfordert und verunsichert eine Mannschaft auf jeden Fall, wenn man seine etablierte Offensiv- und Defensivkraft aus der Vorsaison gegen ein ideenloses Offensivspiel und ineffektives Defensivspiel eintauscht.
Ich bin mittlerweile der festen Überzeugung, dass alle derzeitigen Probleme beim VfL absolut hausgemacht sind und man im Prinzip die gleichen Fehler macht, die man schon 2009 und 2015 begangen hat. Irgendwie schafft man es in Wolfsburg jedes Mal aufs Neue, im Moment des Erfolgs konsequent eine Fehlentscheidung an die nächste zu reihen, bis wirklich jeder im Kader komplett frustriert oder im Formtief angelangt ist. Ich weiß nicht, ob es einfach grundsätzlich unmöglich ist, in einem Verein ohne finanzielle Zwänge langfristig eine Leistungskultur zu etablieren, aber in Wolfsburg ist man mMn den Beweis bis heute schuldig, dass es möglich ist. Ob es am Geld liegt oder an handelnden Personen, möchte ich mir auch gar nicht anmaßen, von außen abschließend zu bewerten.
Aber ich glaube nicht, dass ich der Einzige bin, der auf die aktuelle Situation schaut und sich nicht denkt, dass er das doch schon mal rund um diesen Verein erlebt hat. Und ich glaube mittlerweile auch nicht mehr, dass Wolfsburg sich in den nächsten zwei Jahren für Europa qualifiziert. Das sind mir zu viele Fehler im System mit System, zu viele Fehler mit Ansage, als dass ich die Alleinschuld an der sportlichen Krise bei den Einzelspielern oder bei den Trainern suchen wollen würde. für diejenigen, die das bis zum Ende lesen und nicht komplett enttäuscht davon sind, wie nichtssagend dieser Beitrag in ihren Augen war ^^