Fußball & Gesellschaft - oder: Was genau ist eigentlich ein Sommermärchen?

Ich habe auf Anhieb einen Spiegel-Artikel vom 18.6.2006 gefunden (Deutschland, ein Sommermärchen - DER SPIEGEL), der den Begriff nutzte, also 9 Tage nach dem Eröffnungsspiel. Das deckt sich auch mit meiner Erinnerung, dass der Begriff recht schnell im allgemeinen Vokabular angekommen war.

Ich fand den Begriff ganz stimmig, als Gegensatz zum Wintermärchen.

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Da fehlt einiges. Zum Beispiel das:

In den Kommentarspalten wird kräftig gegen Ostdeutsche gekeilt, was mir beim Lesen derselben in Erinnerung rief, dass man sich in diesem Forum über mehr EM-Spielstätten in Ostdeutschland gefreut hätte, weil …

… ja, warum eigentlich? Ich habe diesen Wunsch damals nicht verstanden und jetzt, nach diesen Vorfällen, verstehe ich ihn noch weniger.

:joy:

Vielen Dank für diese Einordnung. Ich fand den Film, um den es hier geht, auch nicht gut, als ich ihn vor Jahren gesehen habe, war mir aber nicht sicher, ob ich womöglich etwas übersehen bzw. gar nicht wahrgenommen hatte, weshalb mein Urteil am Ende völlig falsch gewesen sein könnte.

Die einzige Stelle, die sich mir eingebrannt hat, ist, wie Jürgen Klinsmann eine Kabinenansprache hält und seine Stimme immer schriller wird, bis sie sich überschlägt.

Die neuen Länder sind selbstverständlicher Teil Deutschlandsund dies muss sich 35 Jahre nach dem Beitritt zwingend (auch) in solchen Standortentscheidungen niederschlagen. Es käme schließlich niemand auf die Idee Köln / Berlin / Hamburg / … nach den islamistischen Demos als Standorte zu hinterfragen.

Mir geht in der Diskussion übrigens etwas unter, dass ein positiver Nationen- und Kulturbezug auch integrative Funktionen übernehmen kann. Darüber können legitime (und weitgehend notwendige) Anspruchshaltungen an Umgang und Verhalten sehr einfach kommuniziert werden. (Die sog. Leitkultur wurde seinerzeit als Konzept entwickelt, um den Ethnobezug der Gesellschaften ersetzen zu können. Als die Union den Begriff aus der Politikwissenschaft aufnahm galt der dann plötzlich als konservativ bzw. rechts und wurde darüber (leider) verbrämt, ohne das Optionen aufgezeigt worden wären.)

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Nein*.

Das wird durchaus kontrovers diskutiert. Gerade in Ländern mit wenig entwickelten demokratischen Strukturen dient Nationalismus als Vehikel, um eine Gesellschaft hinter der politischen Führung zu vereinen (gestern erst wieder in einem anderen Zusammenhang gelesen).

In Ländern mit anderen Strukturen sieht man Nationalismus kritischer, würde ich sagen, weil da latent immer ein „Wir gegen die“ mitschwingt, weshalb es so etwas wie einen „positiven Nationenbezug“ nicht gibt - das mündet früher oder später immer in hässlichen Überlegenheitsfantasien. Hinzu kommt ein starker Anpassungsdruck auf alle, die nicht qua Geburt dazugehören.

Noch schwieriger wird es bei einem „positiven Kulturbezug“, da es dafür keine definierten Grenzen wie beim Nationalismus gibt, weshalb dann schwammige Formulierungen wie das „christliche Europa“ herhalten müssen, um diesen durch und durch bedeutungslosen Begriff mit so etwas wie Inhalt zu füllen.

Na ja, das hatte auch damit zu tun, dass damals die Union damit genau das tun wollte, was ich oben bereits geschrieben habe, nämlich eine Trennung von „wir“ und „die“ beizubehalten bzw. zu verstärken. Ich fand das schändlich, was man da versucht hat.

Und natürlich wurden Optionen aufgezeigt. Statt einer deutschtümmelnden „Leitkultur“ zu folgen, sollte es reichen, sich an die Gesetze zu halten und sich ansonsten so zu benehmen und zu verhalten, wie es einem gefällt, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wie das bei anderen Leuten ankommt. Man könnte es vielleicht mit einer Salatbar vergleichen, wo man sich das nimmt, was einem gefällt, und das liegenlässt, wofür man keine Verwendung hat. Das mag bei einigen zu übervollen Tellern führen, während bei anderen der Teller leerbleibt. Letztlich alles egal, solange sich die Leute an Recht und Gesetz halten.

*Nichts für ungut, aber ich dachte, wenn du einfach mal so eine Behauptung raushauen kannst, dann kann ich das auch. Nur Teil eines Landes zu sein, reicht nämlich nicht, um bei solchen Veranstaltungen vollumfänglich mitmachen zu dürfen, denn neben den Rechten (die du betonst), gibt es auch Pflichten (die in diesem Kontext offenbar gerne geleugnet werden), und da gibt es in Ostdeutschland Nachholbedarf.

Nachtrag:

Diese Passage verstehe ich nicht.

Da ich Grade im ICE sitze vorerst nur ganz kurz (Werde mich die Tage ggf. nochmals etwas ausführlicher äußern);

Du musst Deine Kriterien gleichermaßen an jedwede Region anlegen. Wenn Du die Auffassung vertrittst, dass Regionen in denen (rel.) regelmäßig Äußerungen getätigt werden, die Dritten die Menschenwürde absprechen, keine entsprechenden Events abhalten sollen, trifft das die alten Länder mit ihren antisemitischen, islamistischen, linksextremen und freilich auch rechtsextremen Gruppierungen gleichermaßen. Dann bleibe ggf. noch München als größere Stadt übrig. (Was ich vermutlich auch nur behaupte, weil ich mich in München gar nicht auskenne.)

Zudem wäre ich mit Begriffen wie Nationalismus zurückhaltend, da sie eine sehr spezifische Bedeutung tragen / klar definiert sind. Selbstverständlich votiere ich nicht für die Verfolgung von Überlegenheits / Herrschaftserzählungen.

Zuletzt ist mEn gerade der deutsche Kulturraum über den Sprachraum, ein Konglumarat an verbreiteten Riten und Traditionen, institutionalisierten gesellschaftlichen Aushandlungsverfahren in (Verein, Kirche, Ehrenamt, etc.) erwarteten Umgangsformen, Kulinarik, einer Ideengeschichte (Christinismus, Aufklärung, Reformation, Ausprägung des dt. Nationenbegriffs und später die Schaffung von Staat und Nation durch Preußen, die liberalen Strömungen des dt. Sprachraums insgesamt, die Befassung mit dem Holocaust und den NS-Verbrechen, alsbald sicherlich mit der DDR-Geschichte und den Rahmenbedingungen der Einigung, uvm.), usw. ganz gut abgrenzbar. Quasi vom Handschlag zum Gruß bis zu 218/218a StGB als unmittelbarer Ausfluss der Menschenwürde. Sicherlich findest Du nicht in jeder Region 10/10, aber doch 7-8/10.

Nachtrag vom Gegenlesen; die Kunst- und Literaturgeschichte als ehemaliges aktives Mitglied im Jugendtheater zu vergessen, verzeihe ich mir nicht. Ich hoffe, der Kaffee kommt bald :joy::slightly_smiling_face:

Guten Start in die Woche!

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Wollte mich eigentlich nur kurz äußern, jetzt will ich doch ein bisschen länger, sorry für die Ausführlichkeit.

Ein Ding vorweg: Ich sehe einiges mittlerweile anders als damals, dachte aber, wenn die Frage nach der eigenen Wahrnehmung gestellt wird, ich greife etwas deutlicher die Sicht meines 2006-Ichs auf.

Also ich fand das damals alles kacke. Ich war Student, Mitte 20, in ner linken Bubble sozialisiert und hatte weder Geld noch nen eigenen Fernseher in der WG. Ich hatte voll Bock auf viel Fußball gucken, weil ich Zeit hatte und mal auf ein Semester scheißen konnte. War aber eben darauf angewiesen, dass irgendwo in der Öffentlichkeit zu tun. Jetzt tauchten da aber überall diese schwarz-rot-geil Idiot_innen mit ihren Blumenketten und schlimmen Pochersongs auf, interessierten sich nur fürs Saufen und Feiern, gar nicht für den Fußball und schimpften auf alles, was gegen Deutschland war. Resultat: Ich habe das Eröffnungsspiel bei meinen Eltern gesehen und dann alle Spiele in ner Public Viewing Arena, außer den Deutschlandspielen, da bin ich geflüchtet vor den unangenehmen Massen. Erst das Argentinienspiel hab ich mit der Freundin bei denen im Keller gesehn, weit weg von meinem Wohnort. Beim Halbfinale war ich mit nem Kumpel im Kino, X-Men3, war auch ne Enttäuschung.

Kurzum, es gab damals viele Gründe die ganze Angelegenheit abzulehnen und ja auch der „ungezwungene Nationalismus“ hat mich schon 2006 gestört und ich habe ihn als Problem wahrgenommen. Ob da nun direkt politische Konsequenzen draus gefolgt sind, finde ich schwer zu bewerten, aber ich habe den Eindruck, dass man es schon in der Gesamtlage der darauffolgenden Turniere lesen muss. Die Einübung dieses folkloristischen Korsofahrens bis ins kleinste Dorf, der einstudierte Hass auf alles was nur entfernt mit Italien zu tun hat. Die Gewaltandrohungen gegen Freunde, die als „türkisch“ gelesen werden, usw. Das sind alles Dinge, die ich erst 2008 bis 2014 verfestigt fand.

Interessant daran finde ich, dass ich selbst immer in dem Glauben aufgewachsen bin, dass sich Deutschland in den 90ern durch eine Art „Entwicklungsvorsprung“ auf dem Weg zur Überwindung von Nationalismus as such befunden habe. Das war dann etwas, was 2006 in meinem Weltbild nachhaltig erschüttert hat, zumal ich durchaus Menschen kenne, die diese „endlich“ darf man das mal wieder, Erzählung propagiert haben. Das ist auch der Punkt, wo ich die Bewertung von xxxx nachvollziehen kann. Weil wann soll das „wieder“ gewesen sein? (Sowieso eines der schlimmsten Worte in all den Narrativen, die in den vergangenen Jahren so verbreitet wurden.)

Jetzt ist das einige Jahre her, ich würde mich selbst als etwas distanzierter beschreiben und habe zu einigen Dingen differenziertere Ansichten. Vor allem, was das Konzept „Nation“ betrifft. Berufsbedingt betrachte ich das gerne aus seiner Historie heraus und ich finde das Narrativ überzeugend, dass Nation im 19. Jahrhundert deswegen so erfolgreich war, weil es den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit einen Sinn und ein Ziel zu verleihen vermochte. Geht man davon aus, dass menschliche Kollektive, die eine gewisse Größe überschreiten nur funktionieren können, wenn Sie sich hinter einem nachvollziehbaren und kollektiv zu begründenden Ziel versammeln, erscheint es einleuchtend, dass die bisherige Mastererzählung (a.k.a. religiöse Heilslehre) durch etwas anderes abgelöst werden musste. Herrschaft sollte nicht mehr durch Gott legitimiert werden, gesellschaftliche Entwicklungen stellten in Frage, dass christliche Lehren in der Lage seien, Probleme zu bewältigen und Ziele zu erreichen. Stark vereinfacht ausgedrückt, füllte die Nation und der Glaube daran diese Lücke. In Reinform in den USA zu sehen, wo die Verfassung bis heute eine annährend sakrale Verehrung erfährt.

Nun haben wir seit dem 19. Jahrhundert aber einige Entwicklungen erlebt, die das Konzept Nation (gerne durch seine Beschreibung als „Nationalismus“) diskreditiert haben. Dennoch stellt es in den für uns alle völlig normal gewordenen modernen Flächenstaaten immer noch DIE dominante Erzählung dar. So sehr, dass es für viele Menschen unvorstellbar ist, dass Nationalstaaten eine historisch gewachsene Entität sind, die keine 250 Jahre als ist. Stattdessen werden gerne Wurzeln dazu in weiter zurückliegenden Zeiten vermutet. Veranstaltungen wie die EU oder große internationale Sportveranstaltungen sind ohne die Organisation in Nationen undenkbar. Man blicke allein auf die Inszenierung durch Flaggen, Hymnen u.ä. bei diesen Gelegenheiten. Und da kommt dann eben der Umgang in Deutschland mit Nationalismus ins Spiel: In Deutschland gibt es einen sehr pessimistischen Blick auf die Wurzeln der Nation. Oft werden die negativen Seiten in der breiten Öffentlichkeit den Mittelpunkt gerückt, was in anderen Ländern undenkbar wäre. Allein, dass das nationale „Erweckungserlebnis“ in Deutschland eher das Ende des 2. Weltkrieges bildet als irgendeine erfolgreiche Revolution oder so, spricht Bände. Anekdotisch angemerkt, fand ich es mit 14 verstörend, wie unsere französischen Austauschschüler_innen alles Französosche abfeierten, vehement verteidigten und die ihre Nationalhymne auswendig konnten. In einem Theaterworkshop in der Oberstufe haben wir mal eine Sprechübung gemacht, zu der der Workshopleiter den Text der deutschen benutzen wollte und von 40 Jugendlichen hat den Ende der 90er keiner hinbekommen!

Nun wurde gerade 2006 scheinbar ein unterdrücktes Gefühl in der deutschen Öffentlichkeit bedient, ein ungezwungenes Verhältnis zur Nation ausleben zu können. Ob das aufgrund der beschriebenen Besonderheiten im europäischen Kontext allein dadurch besonderes problematisch war und ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Was ich für mich persönlich beurteilen kann, ist dass ich immer noch ein Problem damit habe, da es immer mit der Abwertung anderer einher geht und da es auf mich christlich sozialisierten Biodeutschen auch einen merkwürdigen Druck ausübt, die eigene Ablehnung dessen oft begründen zu müssen, vor allem immer dann, wenn ich nicht in meiner Bubble unterwegs bin (v.a. am Arbeitsplatz). Und wenn ich das schon unangenehm empfinde, kann ich mir kaum vorstellen, wie es für alle ist, die öffentlich eben nicht als Biodeutsch gelesen werden oder die ganz selbstverständlich diverse nationale Identitäten haben.

Ich glaube jetzt habe ich ein bisschen das Ziel aus den Augen verloren, aber zumindest bin ich die Dinge losgeworden, die mir wichtig waren. Und trotzdem schaue ich die Turniere und habe Sym- und Antipathien zu einzelnen Teams, die völlig emotional und schwer begründbar sind. Ich hätte aber auch kein Problem damit, wenn es solche Veranstaltungen gäbe, die sich eine Überwindung von Nationalstaatlichkeit zum Ziel nehmen würden, die Aufmerksamkeit wäre aus allem gesagten heraus eben nur etwas geringer.

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Zu dem ganzen Thema unbedingt die aktuelle Folge Becker & Pfeiffer ab Minute 45:59 hören.

Da würden mich mal ein paar Beispiele interessieren. Dem Abschnitt darüber kann ich nur zustimmen.

Dem Stimme ich im Grundsatz zu, aber neben den „Hardskill“ sich an Gesetze zu halten gibt es dann doch noch Softskills, dass es doch in vielen Ländern unterschiedliche Benimm und Verhaltensformen gibt, welche nicht rein mit Gesetzen geregelt sind. Und was ist mit Gesetzen in anderen Ländern, die es bei uns zum Glück in der Form nicht mehr gibt (z.b §175 Stgb).

Ich persönlich finde die Geschichte des deutschen Sprachraums sehr spannend, da durch die extreme kleinteilige Gliederung des HRR und später des Deutschen Bund sowie den immer noch stark ausgeprägte Regionalcharakter in den Bundesländern und teilweise bis auf die Gemindeebene es für mich eigentlich sehr schwer zu Fassen ist, was am Ende „Deutsch“ ist. Es ist mehr als die gemeinsame Sprache, aber den „Deutschen“ kann man auch nicht definieren. Und mit der ganzen Migrationsbewegung ist es jetzt noch schwieriger.

Das ist ein Thema, was auf jedenfall auf das Diskussionsfeld kommen muss und wird. In einer immer heterogeneren Gesellschaft mit Menschen, die durch Ihre Familiengeschichte weder mit dem zweiten Weltkrieg noch mit den NS-Verbrechen konfrontiert waren, haben natürlich einen andere Auffassungs von Geschichte. Auf einigen Demos nach dem 7 Oktober wurde gerufen „Free Palestine from german guilt“, nicht Flächendeckend, wo es mir dann doch eiskalt den Rücken runterläuft, das die „Deutsche Schuld“ in einen vollig anderen Kontext geschoben wird. Da stellt sich natürlich die Frage, müssen die Menschen dann auch die Auffasung über die NS-Verbrechen übernehmen, welche Gesellschaftlich soweit ja akzeptiert ist, wenn sie hier leben wollen?

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Mit gutem Grund. Die Bildung von Nationalstaaten war unabdingbare Voraussetzung für die Bildung von demokratischen Flächenstaaten. Entfernt man den Nationalstaat, gibt man die Demokratie jenseits der kommunalen Ebene auf. (Und bitte nicht mit der EU kommen. Die Auflösung der europäischen Nationalstaaten in einer EU würde nur einen weiteren, aber größeren Nationalstaat schaffen - so wie die zwei Königreiche Sachsen und Bayern heute Teil Deutschlands sind.) Insofern finde ich dieses Einschlagen auf den Nationalstaat und den Nationalismus, ohne auf dessen historischen Grundlagen zu schauen, eindimensional. Man müsste all denen, die sich an der Nation festhalten (und das tun wir fast alle, denn sonst würden wir uns nicht die ganze Zeit in Erinnerung rufen, wie man mit seiner Nation umgehen sollte), etwas anderes anbieten, dass die gleichen Funktionen enthält. Aber da gibt es noch nicht mal eine Vision, außer wahnwitzigen Visionen, wie die der Rückkehr zu undemokratischen Personenverbänden a la Reichsbürger.

Du beziehst Dich hier, glaube ich, auf das Verhältnis zur Nation, also Nationalismus im weiteren Sinne. Das ist der eine Punkt, wo ich nicht mir Dir übereinstimme. Die Herabsetzung anderer im Zusammenhang mit der Befürwortung der eigenen Nation ist möglich (und passiert), aber nicht zwingend. Heinrich Heine war Nationalist (fällt mir gerade ein wegen Sommer-/Wintermärchen), der wiederum von anderen Nationalisten heftigst angegriffen wurde - als Verräter an der Nation, für die er den Nationalstaat herbeisehnte. Das zeigt, dass der Begriff inhaltlich viel unterschiedliches zulässt - Gutes und Schlechtes. Was mir an Positionen wie der von Becker & Pfeiffer missfällt (die Folge, die @FullMetalJensen vor 2 Stunden empfahl), ist, dass anderen, die ihre Nation positiv sehen, immer wieder ohne Nachfragen das Schlechte unterstellt bzw. das Gute verboten wird (nicht ganz vollständiges wörtliches Zitat aus der Sendung: „Menschen dürfen sich mit ihrem Team freuen, aber da hört es dann auch schon auf“.) Sollte man mal ins Ukrainische übersetzen.

Ich zitiere Mal aus einem FAZ-Artikel, Auftaktspiel verloren? Egal! vom 18.06.2024:
Fünftens, einen anderen Patriotismus zeigen: Man mag in Deutschland derzeit zu Recht darüber diskutieren, was die allgegenwärtige schwarz-rot-goldene Beflaggung in einem Land und in einer Zeit bedeutet, in dem Rassismus, Nationalismus und Rechtsextremismus Auftrieb haben. In der Ukraine ist die Lage eine etwas andere. Auch dort existiert dieser Flaggennationalismus. Wo auch immer man hinschaut, sind gelb-blaue Fahnen zu sehen. Und ja, auch dort kann man sich sorgen, wohin dieser Nationalismus in der Zukunft führt. Darin steckt eine Soldatenverherrlichung, die kaum hinterfragt wird. Selbst Kinder wachsen damit auf, dass die Verteidigung des Landes mit der Waffe das vermeintlich hehrste aller hehren Ziele sei. Das ist nun im Angesicht der bedrohten Existenz des Landes nicht nur verständlich, sondern möglicherweise auch schlicht notwendig. Allerdings verheißt eine zukünftige Generation von Kriegern in Zeiten eines irgendwann hereinbrechenden Friedens nicht nur Gutes. Gerade deswegen ist es wichtig, dass das Land mit sportlichen Helden und einem Fahnenmeer, das sich in Stadien statt auf Friedhöfen ausbreitet, eine Alternative bekommt, an der sich vor allem junge Menschen orientieren können.“

Mir ist zwar neu, dass es in Deutschland einen Flaggenpatriotismus gibt, aber sei es drum, wir führen gefühlt eine sehr „deutsche“ Diskussion über das Thema. Beim CL-Halbfinalspiel in München gegen Real wurde eine junge Zuschauerin eingeblendet, welche stolz ihre Albanien-Fahne in die Kamera hielt, da fragt man sich natürlich, warum zeigt Sie dort ihre Albanien-Fahne, obwohl Albanien offentsichlich in keiner Form vertreten war (Verein, Spieler, Schiri etc.).
Seit zwei Jahren haben die Ukrainer bei jedem Abspielen der der Hymne ihre Fahne auf dem Rücken, da das ja keine anderen Teams machen sieht das für den Außenstehenden doch etwas befremdlich aus. Es ist schon ein bischen Ambivalent, wenn man anderen Nationen so etwas zugesteht, während man in Deutschland sofort hinter dem Zeigen der Fahne einen Rassismus und Nationalismus-Verdacht in bestimten kreisen hegt. Wie gesagt, ich bin kein Fan davon anlasslos überall Deutschlandfahnen aufzuhängen.

Es gibt ja die EU oder auch das Konzept eines Weltbürgers im Rahmen der UNO, aber davor graut es mir. Die größte Einheit, wo sich in größerer Fläche funktionierende demokratische Strukturen durchgesetzt haben sind nun mal der Nationalstaat mit allen seine Vorteilen und Schwächen. Die EU in dieser Form(!) ist durch Ihre Konstuktionsfehler und auch Entscheidungsprozessen leider eine schlechtere Alternative zu einem kleinen, auf engeren Fläche funktionierenden Nationalstaat.

Warum sieht das deiner Meinung nach befremdlich aus? Die Gründe dafür sollten doch bekannt sein.

Natürlich ist das ambivalent, denn die Geschichten bzw. Genesen von Nationen sind ebenfalls ambivalent. So gibt es solche, die erst nach Jahrhunderten der Kolonialherrschaft in die Freiheit entlassen wurden, und dann gibt es Deutschland, eine Nation, die vor nicht einmal 100 Jahren vorsätzlich und aus niederen Motiven heraus für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich war.

Ich denke, das zeigt, warum manche Leute voller Stolz die Flagge ihres Landes zeigen, während man in Deutschland gute Gründe dafür hat, das nicht zu tun.

Mir nicht. Ich begrüße das. Ausdrücklich. Aber ich stamme ja auch aus „bestimmten Kreisen“, nehme ich an.

Was immer das für dich bedeuten mag.

So wie Liechtenstein oder Monaco?

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Die Frage bleibt aber, ob es eine notwendige Bedingung ist. Die Abwertung gesamter Kollektive und der sie formierenden Individuen setzt eine Überhöhung des eigenen Kollektivs voraus. Da ist Nation zwar nicht das einzige denkbare aber eben aktuell das wirkmächtigste.

Problematisch finde ich hier die Gleichsetzung von Nation und Demokratie. Deiner vorher getätigten Aussage zu deren Bedingtheit stimme ich zwar zu, aber auch Nationalismus hat unterschiedliche Facetten und einen Wandel über das 19. Jahrhundert hinweg erfahren. Waren die ersten Versuche (v.a. USA und Frankreich) noch offen gedacht (wer dazugehören will kann das, wenn er die Werte anerkennt [no gendering needed]) werden die gedachten Kollektive immer spezifischer, bis zur völkischen Interpretation. Genau die stellen sich ja Reichsbürger vor und wollen keine Personenverbände, wie es sie im MA und der FN gab, sondern eben undemkratische nationale Organisationsformen, ähnlichen denen die es z.B. in Deutschland zwischen 1871 und 1918 gab.
VIsionen gibt es und wird es immer geben, aber es ist nicht vorhersehbar welche davon Wirkmacht entfalten, das war es damals auch nicht und dass es die Internationale Idee nicht war, war auch nicht abzusehen. Es ist eben offen und wir kennen den Ausgang nicht, dass kein Wandel stattfinden wird ist aber eher ausgeschlossen.

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Na, da muss man nur „überzeugten“ Nationalisten ein wenig zuhören. Donald J. Trump will mir spontan einfallen. Da werden ständig andere Nationen herabgesetzt („shithole countries’“).


Mich befremdet diese Aussage („möglich, aber nicht zwingend“). Natürlich setze ich alles andere herab, wenn ich eine Sache (hier eine Nation) erhöhe. Ist wie mit dem Highlander. Es kann nur einen geben. Die anderen sind dann der (traurige) Rest, auf den man herabschaut.

Aber die Anmerkung bezog sich doch nur darauf, dass das nicht zwingend ist. Beispiele für Abwertung gibt es natürlich genug (und ich habe nicht den Eindruck das @McQuab das in Frage stellt).
Schaut man sich aber beispielsweise die Frühphase der Nationalstaatsbewegung an, gab es da viel Solidarität unter den Nationen in ihrem bestreben um einen Staat. Und auch heute gibt es viele Staaten und Nationen die einander sehr solidarisch gegenüberstehen, das eine schließt eben das andere nicht aus.

Ganz ehrlich: das braucht es nicht. Ich habe Narzissten in Person erlebt, die ganze Kollektive mühelos alleine aus ihrer individuellen Selbstherrlichkeit heraus herabgesetzt haben. Aber natürlich hast Du Recht - nur wenige trauen sich alleine und das Kollektiv ist daher das übliche Vehikel, und auf Grund ihrer materiellen Macht sind die Nationen das potentiell gefährlichste Kollektiv. Aber man kann nicht aus der faktisch richtigen Tatsache, dass einige Kollektive einige andere Kollektive herabsetzen, ein allgemeingültiges Gesetz zimmern.

Ich setze die nicht gleich, dafür gibt es zu viele Gegenbeispiele. Nationalstaaten sind nur eine Voraussetzung der flächendeckenden Demokratie, die genutzt werden kann, oder auch nicht. Nur wenn man als Gedankenspiel den Nationalstaat wegnimmt, hat man auch ‚gleich‘ die Demokratien (wo es welche gibt) mit abserviert. Ansonsten folge ich Dir: Nationalismus und Nationalstaat haben in der Tat viele Spielarten und die Dosis macht das Gift. Was Nation in Zukunft mit sich bringt, weiß keiner - der Begriff ist schillernd. Mir geht nur die Absolutheit auf den Geist, mit der jede Form von Nationalismus oder Patriotismus ohne Unterschied und Untersuchung als schlussendlich menschenverachtend dargestellt wird. Das ist eine pauschale Überheblichkeit, die der eines sich selbst überhöhenden Nationalismus gleichkommt. Die Kurve zum Sommermärchen: das war doch die allgemeine Wahrnehmung, dass damals ein Nationalismus ohne Überhöhungsprogramm auftrat. Klar war der nicht alleine, denn klar gab es immer noch Faschos (und deren Zahl hat sich inzwischen vergrößert, und zwar nicht wegen Fußball). Aber sich einen „positiven“ Nationalismus zu verbieten, weil es Faschos gibt, die einem „negativen“ Nationalismus huldigen, heißt, den Faschos die Macht zu geben.

Ich habe das mit dem Personenverband der Reichsbürger nur geschrieben, weil ich gerade über den Münchener Reichsbürger-Prozess gelesen habe: einer der Angeklagten sprach wohl von der Idee einer Monarchie, in der nur Adelige wichtige Dokumente unterschreiben könnten. Das klang halt schwer nach Ständestaat etc. Die Reichsbürger sind abstrus wirr und irrelevant für diese ganze Diskussion.

Ja, so will ich mich bitte verstanden wissen. Nation mit Überhöhung gibt es, Nation ohne Überhöhung auch. @Mars: Trump ist doch eher ein Beispiel dafür, dass es auch Überhöhung ohne Nation gibt. Der bezeichnet auch sein eigenes Land als Dreck, wenn er zurückgewiesen wird.

Nur hat das dann nichts mehr mit Nationalismus zu tun.

Deal with it. Isso.

Du meinst die Solidarität mit den unterjochten Völkern vor allem außerhalb Europas, die alle gerne ihren eigenen Staat gehabt hätten bzw. heute noch gerne haben würden?

Ich weiß nicht, aber ich habe das Gefühl, hier wird eine Menge an „Rosinenpickerei“ betrieben. Vielleicht ist auch der Fokus nicht weit genug.

Starkes Argument. Du hast mich fast überzeugt.

Du weißt schon, dass Du @wechselgeruecht und mir damit Recht gegeben hast, gell? Denn nichts anderes, als dass es auch Rosinen im ansonsten nicht so leckeren Teig gibt, haben wir zur Diskussion gestellt.