Wollte mich eigentlich nur kurz äußern, jetzt will ich doch ein bisschen länger, sorry für die Ausführlichkeit.
Ein Ding vorweg: Ich sehe einiges mittlerweile anders als damals, dachte aber, wenn die Frage nach der eigenen Wahrnehmung gestellt wird, ich greife etwas deutlicher die Sicht meines 2006-Ichs auf.
Also ich fand das damals alles kacke. Ich war Student, Mitte 20, in ner linken Bubble sozialisiert und hatte weder Geld noch nen eigenen Fernseher in der WG. Ich hatte voll Bock auf viel Fußball gucken, weil ich Zeit hatte und mal auf ein Semester scheißen konnte. War aber eben darauf angewiesen, dass irgendwo in der Öffentlichkeit zu tun. Jetzt tauchten da aber überall diese schwarz-rot-geil Idiot_innen mit ihren Blumenketten und schlimmen Pochersongs auf, interessierten sich nur fürs Saufen und Feiern, gar nicht für den Fußball und schimpften auf alles, was gegen Deutschland war. Resultat: Ich habe das Eröffnungsspiel bei meinen Eltern gesehen und dann alle Spiele in ner Public Viewing Arena, außer den Deutschlandspielen, da bin ich geflüchtet vor den unangenehmen Massen. Erst das Argentinienspiel hab ich mit der Freundin bei denen im Keller gesehn, weit weg von meinem Wohnort. Beim Halbfinale war ich mit nem Kumpel im Kino, X-Men3, war auch ne Enttäuschung.
Kurzum, es gab damals viele Gründe die ganze Angelegenheit abzulehnen und ja auch der „ungezwungene Nationalismus“ hat mich schon 2006 gestört und ich habe ihn als Problem wahrgenommen. Ob da nun direkt politische Konsequenzen draus gefolgt sind, finde ich schwer zu bewerten, aber ich habe den Eindruck, dass man es schon in der Gesamtlage der darauffolgenden Turniere lesen muss. Die Einübung dieses folkloristischen Korsofahrens bis ins kleinste Dorf, der einstudierte Hass auf alles was nur entfernt mit Italien zu tun hat. Die Gewaltandrohungen gegen Freunde, die als „türkisch“ gelesen werden, usw. Das sind alles Dinge, die ich erst 2008 bis 2014 verfestigt fand.
Interessant daran finde ich, dass ich selbst immer in dem Glauben aufgewachsen bin, dass sich Deutschland in den 90ern durch eine Art „Entwicklungsvorsprung“ auf dem Weg zur Überwindung von Nationalismus as such befunden habe. Das war dann etwas, was 2006 in meinem Weltbild nachhaltig erschüttert hat, zumal ich durchaus Menschen kenne, die diese „endlich“ darf man das mal wieder, Erzählung propagiert haben. Das ist auch der Punkt, wo ich die Bewertung von xxxx nachvollziehen kann. Weil wann soll das „wieder“ gewesen sein? (Sowieso eines der schlimmsten Worte in all den Narrativen, die in den vergangenen Jahren so verbreitet wurden.)
Jetzt ist das einige Jahre her, ich würde mich selbst als etwas distanzierter beschreiben und habe zu einigen Dingen differenziertere Ansichten. Vor allem, was das Konzept „Nation“ betrifft. Berufsbedingt betrachte ich das gerne aus seiner Historie heraus und ich finde das Narrativ überzeugend, dass Nation im 19. Jahrhundert deswegen so erfolgreich war, weil es den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit einen Sinn und ein Ziel zu verleihen vermochte. Geht man davon aus, dass menschliche Kollektive, die eine gewisse Größe überschreiten nur funktionieren können, wenn Sie sich hinter einem nachvollziehbaren und kollektiv zu begründenden Ziel versammeln, erscheint es einleuchtend, dass die bisherige Mastererzählung (a.k.a. religiöse Heilslehre) durch etwas anderes abgelöst werden musste. Herrschaft sollte nicht mehr durch Gott legitimiert werden, gesellschaftliche Entwicklungen stellten in Frage, dass christliche Lehren in der Lage seien, Probleme zu bewältigen und Ziele zu erreichen. Stark vereinfacht ausgedrückt, füllte die Nation und der Glaube daran diese Lücke. In Reinform in den USA zu sehen, wo die Verfassung bis heute eine annährend sakrale Verehrung erfährt.
Nun haben wir seit dem 19. Jahrhundert aber einige Entwicklungen erlebt, die das Konzept Nation (gerne durch seine Beschreibung als „Nationalismus“) diskreditiert haben. Dennoch stellt es in den für uns alle völlig normal gewordenen modernen Flächenstaaten immer noch DIE dominante Erzählung dar. So sehr, dass es für viele Menschen unvorstellbar ist, dass Nationalstaaten eine historisch gewachsene Entität sind, die keine 250 Jahre als ist. Stattdessen werden gerne Wurzeln dazu in weiter zurückliegenden Zeiten vermutet. Veranstaltungen wie die EU oder große internationale Sportveranstaltungen sind ohne die Organisation in Nationen undenkbar. Man blicke allein auf die Inszenierung durch Flaggen, Hymnen u.ä. bei diesen Gelegenheiten. Und da kommt dann eben der Umgang in Deutschland mit Nationalismus ins Spiel: In Deutschland gibt es einen sehr pessimistischen Blick auf die Wurzeln der Nation. Oft werden die negativen Seiten in der breiten Öffentlichkeit den Mittelpunkt gerückt, was in anderen Ländern undenkbar wäre. Allein, dass das nationale „Erweckungserlebnis“ in Deutschland eher das Ende des 2. Weltkrieges bildet als irgendeine erfolgreiche Revolution oder so, spricht Bände. Anekdotisch angemerkt, fand ich es mit 14 verstörend, wie unsere französischen Austauschschüler_innen alles Französosche abfeierten, vehement verteidigten und die ihre Nationalhymne auswendig konnten. In einem Theaterworkshop in der Oberstufe haben wir mal eine Sprechübung gemacht, zu der der Workshopleiter den Text der deutschen benutzen wollte und von 40 Jugendlichen hat den Ende der 90er keiner hinbekommen!
Nun wurde gerade 2006 scheinbar ein unterdrücktes Gefühl in der deutschen Öffentlichkeit bedient, ein ungezwungenes Verhältnis zur Nation ausleben zu können. Ob das aufgrund der beschriebenen Besonderheiten im europäischen Kontext allein dadurch besonderes problematisch war und ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Was ich für mich persönlich beurteilen kann, ist dass ich immer noch ein Problem damit habe, da es immer mit der Abwertung anderer einher geht und da es auf mich christlich sozialisierten Biodeutschen auch einen merkwürdigen Druck ausübt, die eigene Ablehnung dessen oft begründen zu müssen, vor allem immer dann, wenn ich nicht in meiner Bubble unterwegs bin (v.a. am Arbeitsplatz). Und wenn ich das schon unangenehm empfinde, kann ich mir kaum vorstellen, wie es für alle ist, die öffentlich eben nicht als Biodeutsch gelesen werden oder die ganz selbstverständlich diverse nationale Identitäten haben.
Ich glaube jetzt habe ich ein bisschen das Ziel aus den Augen verloren, aber zumindest bin ich die Dinge losgeworden, die mir wichtig waren. Und trotzdem schaue ich die Turniere und habe Sym- und Antipathien zu einzelnen Teams, die völlig emotional und schwer begründbar sind. Ich hätte aber auch kein Problem damit, wenn es solche Veranstaltungen gäbe, die sich eine Überwindung von Nationalstaatlichkeit zum Ziel nehmen würden, die Aufmerksamkeit wäre aus allem gesagten heraus eben nur etwas geringer.