Es könnte natürlich sein, dass die „schlimmer“ geworden sind, aber es ist nicht klar, woran das festgemacht wird. Tatsächlich sind mir aber häufiger Formulierungen untergekommen, die von immer mehr Gewalt sprechen - der ZDF-Beitrag oben als Beispiel, aber auch diese Doku hier oder z.B. bei der Sachstandsanalyse des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages (ich will die PDF nicht verlinken, deshalb: „WD 10-025/23 Gewalt im Amateurfußball“ auf deren Seite suchen).
Technisch ist es natürlich korrekt von „mehr Gewalttaten“ zu sprechen, wenn man die absoluten Zahlen von 21/22 mit denen von 22/23 vergleicht, aber anhand der Quote kann man den Schluss so nicht einfach ziehen. Wirklich festgemacht wird das aber zumeist an den Spielabbrüchen und die Kriminologin Thaya Vester, die in der Doku auch vorkommt und für den DFB forscht (!), qualifiziert die Abbrüche als die besonders heftigen Gewalttaten. Der Sachstand des WD nimmt auch die Abbrüche als Indikator, beruft sich aber auch nur auf die DFB-Zahlen. Ich konnte aber bei denen bisher nichts zur Qualität aller Gewalttaten in den einzelnen Jahren und im Vergleich finden, d.h. der Schluss, dass Spielabbrüche ein Indikator für eine schwere Gewalttat sind, funktioniert mit den Zahlen eigentlich nicht. Ob ein Abbruch 22/23 unter den gleichen Bedingungen vollzogen wird wie 18/19 lässt sich nirgendwo ablesen, sodass der Schluss, dass die gestiegene Abbrüche auf mehr schwere Gewalttaten hinweisen, ein Zirkelschluss ist, der davon ausgeht das alle anderen Variabeln gleichgeblieben sind (Sensibilität, Präventionskonzept, etc.). Das wird aber anscheinend nirgendwo untersucht.
Alles, was ich zur Qualität finden konnte, ist die Studie von Frau Vester 2018-20, die am Ende der Pressemitteilung selbst erstmal härteres Durchgreifen fordert. Leider kann ich die Studie selbst (und nicht nur die Titbits in Pressemitteilungen) nirgendwo finden, obwohl sie angeblich seit Sommer 2022 veröffentlicht sein sollte. Ich konnte nur ihre Stellungnahme von 2024 vor dem Sportausschuss des Bundestages finden (wieder PDF, beim Bundestag als „Stellungnahme Dr. Thaya Vester, M.A., Universität Tübingen zu TOP1“ zu finden), in der sie aus ihrer Studie (und den Lageberichten) zititert. Da kann man dann den Längsschnitt über die Daten seit 2014/15 finden (S.3) und sehen, dass es weniger Spiele mit Störungen und weniger Gewaltvorkommnisse in absoluten Zahlen und in der Quote als 2014/15 gibt, aber dafür die Spielabbrüche hochgegangen sind (wobei das trotzdem keine riesigen Sprünge sind). Auf Seite 6 sind dann Aussagen zu den Gründen der Spielabbrüche zu finden: Knapp 2/3 sind deshalb abgebrochen worden, weil der Referee sich oder andere in Gefahr sah, 1/3 aus ungeklärten oder anderen Gründen. Im Weiteren wird dann ausgeführt (S.9), dass es in 17,9% der Abbrüche zu Verletzungen/Personenschaden kam - sie nennt allerdings alle Abbrüche regelmäßig „gewaltbedingt“. Danach geht sie dann auf ihre eigenen Dunkelfeldbefragungen ein, die das ‚Sicherheitsgefühl‘ der Referees erfasst. Gefühlte Sicherheit ist in meinen Augen kein sinnvoller Indikator, aber dankenswerterweise hat sie auch zwei richtige Items abgefragt: Ob die Schiedsrichter schon bedroht wurden und ob sie schon selbst Gewalt erfahren haben. Während der Anteil der Bedrohten seit 16/17 tatsächlich um 2,8% zugelegt hat (S.10), ist der Anteil der Angegriffenen quasi gleich geblieben (0,1% mehr 22/23 als 17/18, S.11). In den Fragen zur gefühlten Sicherheit ist dann eine gestiegene gefühlte Unsicherheit festzustellen, was aber zumindest die Frage aufwirft, warum das nicht mit den tatsächlichen Übergriffen korrespondiert. In ihrer Bewertung (S.15f.) konstatiert sie dann eine Verschlechterung der Situation und stellt Respektlosigkeit und Angriffe auf eine Stufe - wobei sie ja zuvor bereits Drohungen/Beleidigungen auf eine Stufe mit körperlichen Angriffen stellt.
Das sind die einzigen halbwegs empirischen Aussagen, die ich jetzt zur Qualität der Gewalt finden konnte und sie bringen mich ehrlich gesagt nicht weiter bzw. bestärken sogar den Verdacht, dass Berichterstattung und Realität auseinanderfallen. Denn es gibt an keiner Stelle einen qualitativen Vergleich und die Daten der Studie (wenn es sie denn gibt) sind für 21/22 bzw. 22/23 nicht aussagekräftigt, solange ich die Aussagekraft nicht plausibel mache (was ich nirgendwo finden konnte). Alle quantitativen Daten zeigen keinen Sprung und ich habe nochmal nachgeguckt: Zwischen 18-20 und 21/22 bzw. 22/23 hat sich eine weitere Variable geändert. Der DFB hat den Schiedsrichtern den Drei-Stufen-Plan bei Vorfällen an die Hand gegeben.
Oder kurz: Ein Mehr an Gewalt kann ich quantitativ nicht feststellen. Qualitativ auch nicht und DFB, Verantwortliche etc. wären gut beraten einmal zu untersuchen, ob das Mehr an Abbrüchen nicht der Regeländerung entspringt und welche Folgen das konkret hat. Kann man immer noch 17,9% Verletzte nach Abbrüchen feststellen (was ja ein wirkliches quantitatives Mehr wäre) oder ist die Quote runtergegangen, die Gesamtzahl aber gleich geblieben? Ist die Gesamtzahl runtergegangen? Die Vermengung von Diskriminierung und Gewalt wäre sinnvollerweise auch aufzulösen. Immerhin ergibt das unterschiedliche Ansätze, die es für die Prävention braucht.