Ich bin ja unglaublich geschmeichelt, dass meine Wortschöpfung vom “Böllenfalltoreffekt” es in die letzte Sendung geschafft hat, allerdings zielte der Hinweis, dass der Effekt angesichts der Heimschwäche der Lilien nicht greife, ins Leere. Der Begriff war nämlich nie so gedacht, dass er sich auf Heimstärke bezog (oder er war einfach schlecht gewählt, das kann natürlich auch sein). Was ich jedenfalls gemeint hatte waren im Grunde zwei Phänomene:
a) Die Lilien ziehen ihre Stärke und einen Vorteil daraus, dass sie unterschätzt werden. Dabei hilft ihnen die Medienberichterstattung, die sich unglaublich stark auf Themen wie “das Bölle ist ein Regionalliga-Stadion” u.a. Geschichten kapriziert und bis weit über den Saisonbeginn dieses Bild von den Underdogs zementieren wird.
b) Fußballer, die zu Darmstadt wechseln, beweisen alleine mit diesem Schritt, dass sie es wirklich noch einmal wissen wollen. Auch dafür steht das Böllenfalltor mehr oder weniger symbolisch: Es ist jedem vorher klar, wie schlecht die Trainingsbedingungen sind. Die Bande aus angeblich “Gescheiterten” war damit in Wirklichkeit von Anfang an gar nicht so abgehalftert, wie es scheint, weil die Spieler eine ganz wichtige Charaktereigenschaft mitbringen: Sich wirklich reinhängen zu wollen und nicht auf ihren Status als “ich war mal ein Star” zu pochen.
Nach der Hinrunde sehe ich beide Thesen eigentlich als (vorläufig) bestätigt.
Die Auswärtsstärke der Lilien beweist gerade, dass sie dann immer besonders gut waren, wenn sie unterschätzt wurden. Im Heimstadion, umgeben von einem gewissen Nimbus, haben sie sich deutlich schwerer getan. Insgesamt haben sie ihre besten Spiele gegen die schwierigsten Gegner gemacht: In Schalke, in, Dortmund, zwei Mal gegen Bayern (auch wenn es beides Niederlagen waren), in Leverkusen und das “Derby” gegen Frankfurt. Schlecht waren sie immer dann, wenn man darauf hätte hoffen können, dass etwas zu holen ist: Gegen Mainz, gegen Stuttgart, gegen damals noch katastrophale Augsburger. Das Gladbach-Spiel war im Grunde symptomatisch: Die Lilien waren richtig gut bis zur Roten Karte. Danach haben sie den Faden verloren, vermutlich weil auch Gladbach wusste: 0:1 hinten, Rote Karte - das könnten wir tatsächlich verlieren! “Favorit” aber liegt dem SVD in der Bundesliga nicht so.
Das zweite, was in dem Zusammenhang auffällig war, war die Reaktion von gegnerischen Fans, Spielern und Trainern. Das Lamentieren übers angeblich unfaire, viel zu harte Spiel war von Anfang an völlig übertrieben und, davon bin ich überzeugt, stark davon beeinflusst, dass diese Menschen auf den “Böllenfalltoreffekt” reingefallen sind, und dachten, im Grunde müsse man Darmstadt locker weghauen. Wenn es nicht “hartes Spiel” war, war es im Zweifelsfall Zeitspiel oder Schwalben oder, oder, oder… Der Regen an Vorwürfen, die über Darmstadt niedergeprasselt sind, ist im Grunde durch keinerlei Statistik gedeckt. Auch hier wieder war das Gladbach-Spiel ein wunderschönes Beispiel: Die Mannschaft, die getreten und gefoult hat, war kurioserweise Gladbach - nicht Darmstadt. Auf Twitter regten sich dann haufenweise Leute auf, dass Darmstadt angeblich “provoziert!!” hat. (“Ey, der hat mich aber provoziert!” ist normalerweise eine Verteidigung wahlweise von Kindergartenkindern oder von Schlägern, die vor dem Jugendrichter stehen.) Anders gesagt: Darmstadt hat es erfolgreich geschafft, sein Underdog-Image so zu kultivieren, dass es reihenweise Leute zum Ausflippen brachte, wenn sich der Siegtreffer nicht einstellte. Und meine Vermutung wäre, auch wenn sich das schwer beweisen lässt, dass das durchaus auch bei gegnerischen Spielern eine Rolle spielte, die sich dann leichter zu Fouls oder Fehlern hinreißen ließen. (Wohlgemerkt: Ich sage nicht, dass die Lilien die Fair-Play-Medaille verdient haben. Aber die Reaktionen sind und waren auffällig übertrieben).
Das wäre Teil a). Spannend wäre hier die Frage, wie lange das noch anhält. Vielleicht ist es aber gar nicht schlecht, dass der SVD zur Rückrunde eben nicht aufm irgend einem “sensationellen” Platz steht, und alle jetzt ihre Einstellung ändern.
Teil b) hat sich eigentlich auch bestätigt. Ihr hattet in einer Folge die Frage gestellt, warum Vrancic so wenig zum Zug kam. Meine Vermutung, die auch im Lilienfan-Umfeld durchaus diskutiert wird, wäre, dass Vrancic in der ganzen Truppe eigentlich der einzige war, der nicht als “Gescheiterter” ans Bölle kam, sondern als herausragender Held einer Abstiegsmannschaft. Als mit genau der entgegen gesetzten Einstellung. Eventuell fehlte ihm deswegen einfach zu Beginn der 110-prozentige Biss, den viele seiner Mitspieler hatten. Insofern ist es vielleicht kein Zufall, dass er erst gegen Ende der Halbsaison häufiger spielte, als er “geerdet” war (das ist jetzt, das ist mir bewusst, zum Teil Küchenpsychologie).
Viele andere “Gescheiterte” haben sich erstaunlich gemacht. Sandro Wagner halte ich für mit die beste Verpflichtung des Sommers, der Mann arbeitet, kämpft, bringt sogar eine gewisse Technik mit rein, ist wie gemacht für die Standards als Abnehmer, und bewegt sich auch gar nicht schlecht. Vom in Berlin verschmähten “Chancentod” kann jedenfalls bislang keine Rede sein. Koka Rausch war ebenfalls überragend, bis er gegen Ende etwas nachgelassen hat. Caldirola war meist solide. Allen kann man nicht vorwerfen, dass sie keinen Biss haben, und das ist, mal nüchtern betrachtet, bei Spielern, die einst als “große Talente” galten, gar nicht selbstverständlich. Da haben wir schon ganz andere Karriereverläufe erlebt, die dann gut dotiert in Dubai endeten.
Wo Darmstadt aus meiner Sicht ein Problem hat, sind die Außenverteidiger. Garics ist nicht sicher und lässt sich gerne mal überspielen. Diaz bringt gelegentlich Zug nach vorne, wackelt dann aber auch hinten erheblich. Das fällt nicht immer so auf, weil das Zusammenspiel im Team so gut klappt, dass häufig Spieler die Fehler von anderen ausbügeln. Aber kein Außenverteidiger wirkt auf mich wirklich hinten stabil, noch könnte er mit nach vorne für ein paar wirklich schlaue Spielzüge sorgen. Ich glaube, es ist auch da äußerst bezeichnend, dass zuletzt auf rechts Jungwirth (der ja eigentlich kein AV) ist, und auf links Holland zum Zug kamen. Holland hat mir gegen Gladbach vor allem offensiv eigentlich ziemlich gut gefallen.
Während des Gladbach-Spiels twitterte irgend jemand: “In der Halbzeitpause verpflichtet Eberl bestimmt Heller und Wagner.” Meine spontane Antwort darauf war: “Solange er nicht Dirk Schuster verpflichtet…”. Erst anschließend ist mir bewusst geworden, was diese Antwort aus Sicht eines Lilienfans eigentlich aussagt: Schuster ist vermutlich für sehr viele SVD-Anhänger, wenn nicht gar für alle, der entscheidende Baustein dieses Wunders. Wenn der irgendwann geht, dann stünde für Darmstadt das große Fragezeichen im Raum. Bis dahin herrscht eine Gelassenheit, dass Schuster das “schon irgendwie hinbekommen wird”.
Es tauchte bei euch in der Sendung ja auch ein paar Mal die Frage auf, was genau er eigentlich kann, und ob er noch was anderes kann als nur das rustikale, recht einfache Darmstädter Modell. Ich hab mich das in den vergangenen Wochen auch immer wieder gefragt, je mehr Spiele ich aber gesehen habe, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass er durchaus sehr überlegt auf den Gegner reagiert. Er murrt zwar gerne mal nach Niederlagen, dass Darmstadt “versucht hätte, Fußball zu spielen, was sie nicht sollen”, aber in Wirklichkeit war ja sehr wohl eine Entwicklung zu mehr Technik und mehr überlegtem Spielaufbau zu erkennen (jaja, schon klar, auf geringem Niveau, etc.). Dafür stehen auch Leute wie Vrancic, Rosenthal und Wagner. Gerade im letzten Drittel ist da teilweise mehr zu sehen, als man glaubt. Heller wiederum, der noch vor zwei Jahren wirklich ganz, ganz schlecht in der Chancenverwertung war, scheint deutlich zugelegt zu haben: Er kann Tore machen, er schaltet sich hinten in der Abwehr mit ein (Kempe auf der anderen Seite übrigens auch)… ich bin fest davon überzeugt, dass das die Handschrift eines Trainers ist, die da Veränderungen bewirkt hat.
Insgesamt hab ich die Hinrunde mit Darmstadt sehr genossen, und ich hab mir tatsächlich fast jedes Spiel in voller Länge angesehen, entweder im Fernsehen oder im Stadion. Natürlich hat das auch mit dem Underdog-Status zu tun, das war ja zum Teil jedes Wochenende wie DFB-Pokal als Fan einer Amateurmannschaft schauen: Erwarte nichts, freue dich über alles.
Was bislang im Rasenfunk recht wenig zur Sprache kam, und was gerne mal der Lilien-Experte, der dann eingeladen wird, etwas ausführlicher erzählen könnte, ist die Darmstädter Fanszene. Ich fand es sehr auffällig, wie laut die Lilienfans bei jedem Auswärtsspiel waren. Ich weiß aber auch da nicht, ob das jedem bewusst ist (um wieder Twitter als Beleg herbei zu nehmen: Beim Gladbachspiel fragte irgend jemand, ob es denn Gladbach-Fans in seiner Timeline gäbe, und was das Publikum da die ganze Zeit so laut rufen würde, es klänge wie “V-F-B!”. Was da gerufen wurde war natürlich “S-V-D!”, und wenn man als Darmstädter die eigenen Fangesänge kennt, konnte man sie in jedem Spiel sehr leicht identifzieren.) Ich glaube jedenfalls, da ließen sich noch einige spannende Geschichten für die Sendung ausgraben. Zum Beispiel dürfte das Bölle eines der wenigen Stadien sein, in dem eine der größten Ultra-Gruppen auf einer Sitztribüne ist (wo natürlich während des Spiels niemand sitzt), während der Großteil ja Stehplätze sind. Das hat natürlich was mit der Historie zu tun (und auch der Tatsache, dass es zwei rivalisierende Ultra-Gruppen gibt). Kann aber ein altgedienter Darmstädter, der noch die 4. Liga mitbekommen hat, sicherlich spannender erzählen, als ich.