Ein paar einleitende Worte vorab: Frei nach Nick Hornby - Der natürliche Grundzustand des Fußballfans ist Unzufriedenheit, egal wie es steht.
Ein (un-)zufriedenstellende Saison?
33 Punkte, 38:18 Tore. Es besteht noch die Chance auf eine Rückrunde, die es seit über 20 Jahren nicht gab. In meinem persönlichen Umfeld und in diversen Fan-Foren ist aber immer wieder Unzufriedenheit herauszulesen.
Was fehlt also? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Nach einer guten, soliden Hinrunde folgte eine, wie oben gesehen, punktetechnisch überragende Rückrunde. Und das nach Verletzungen von Wirtz (17 Scorer) und Frimpong (7 Scorer), um nur die zwei relevantesten zu nennen.
Außerdem wurde schon jetzt der Torrekord von Leverkusen in der Bundesliga gebrochen, der dritte Platz einen Spieltag vor dem Ende fix gemacht. Unbestritten war die Ausbeute in den Pokalwettbewerben unbefriedigend. Im DFB-Pokal ein bitteres, weil völlig unnötiges Aus gegen den SC aus Karlsuhe und in der Europa-League knapp an Bergamo gescheitert.
Vor allem im DFB-Pokal ist es eben bitter, weil man in den letzten sechs Jahren viermal! an einem unterklassigen Verein gescheitert ist (KSC, RW Essen, Heidenheim, SF Lotte) und die Muster der Spiele sich doch sehr ähnelten.
Insgesamt bleibt für mich aber der positive Eindruck einer Saison, in der man offensiv oft überzeugen konnte, in einer schweren Phasen nach den vielen Verletzungen (kein gelernter RV mehr fit), die Defensive stabilieren konnte und mit einem neuen Trainer das Mindestziel übertreffen konnte (4. Platz). Was aber zu einer weiteren Frage führt.
Die System-Frage
„Es ist Teil unserer DNA, Spieler zu entwickeln und besser zu machen. Für die Entwicklung von Spielern ist es wichtig, Ballbesitz zu haben, häufiger den Ball zu haben als der Gegner. Man sollte immer mit Ball den Gegner ausspielen und damit etwas Sinnvolles anfangen. Das wird weiter unsere Identität und DNA bleiben.“ - Simon Rolfes im April 2021.
Irgendwie habe ich die Worte immer noch im Ohr, denn nach der Bosz-Entlassung, den man expilizit (plakativ gesagt) als Anti-Schmidt holte, sollte der Trainer diesem Profil entsprechen.
In Bosz’s letzter Saison stand man bei ca. 58% Ballbesitz (Platz 3), gegen viele Gegner aus der unteren Tabellenhälfte sogar deutlich mehr und hatte die Ballkontrolle, vor allem zum Ende seiner Zeit bei Leverkusen aber selten die Spielkontrolle.
In Seoanes erster Saison steht man bei 52% (Platz 5, bundesliga.com beide Angaben), greift wieder mehr auf Gegenstöße, Pressingsituationen und schnelles Flügelspiel zurück.
Ich bin ein großer Fan von Seoane (komme ich gleich auch noch zu), aber der (bald) neue starke sportliche Mann bei Leverkusen, sollte sich zumindest die Frage stellen: Na, was denn nun? Wollen wir ballbesitzorientierten Fußball spielen, das Tempo situativ stark drosseln und darüber unser Spiel aufziehen oder soll es doch wieder eher Richtung Tempofußball gehen? Die Vor- und Nachteile beider grundsätzlichen Stile (die ja nicht völlig unvereinbar sind auf Topniveau) hat Leverkusen ja als Blaupausen geliefert (unter Bosz und Schmidt).
Damit der Punkt nicht noch länger wird, will ich nochmal auf ein Zitat des scheidenden Rudi Völlers zurückgreifen aus einem Auswärtsspiel bei Wolfsburg vor Jahren (Doppeltorschütze nach der Pause Simon Rolfes ) auf die Frage, warum man denn zurückliege, obwohl man mehr Ballbesitz gehabt habe?
„Ballbesitz ist das was man draus macht.“
Gerardo Seoane
44 Spiele bisher. 23 Spiele. 2,25:1,32 Gegentore, im Schnitt 1,77 Punkte (Bosz hat übrigens mit 1,79 Punkte immer noch einen besseren Schnitt überraschenderweise für mich).
Herr Seoane ist für mich einen eigenen Punkt wert, weil er in der ersten Saison gefühlt schon alle Phasen eines Leverkusen-Trainers komprimiert durchgemacht hat.
- Höhenflug + Hype
- Die „Blamage“ und folgende Medienschelte
- Unnötige Pokalpleite
- Verletzungspech
- Systemumstellungen (Bedingt durch 4.)
Man hatte als Außenstehender aber zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass der Trainer nicht weiß, wie er die Phasen zu handlen habe. Als selbstbewusster Mahner wirkte er ebenso authentisch, wie der relativierende Trainer, der seine Mannschaft in Schutz nimmt.
Auch auf taktischer Ebene fand ich, soweit als Laie für mich beurteilbar, ihn pragmatisch ohne seinen Stil aus den Augen zu verlieren. Stand und steht kein hochstehender Außenverteidiger zur Verfügung wird der Stil eben angepasst. Steht Florian Wirtz nicht zur Verfügung und ist Paulinho noch nicht bei 100% werden eben die Außenbahnen vällig überladen und der Stil dahingehend angepasst.
Mit Blick auf meinen vorherigen Punkt würde ich mir wünschen, dass dieser Trainer nicht bei der ersten größeren/längeranhaltenden Krise entlassen wird. Denn neben der persönlichen Authentizität steht er hinsichtlich der Talentförderung auch für den „Leverkusener Weg“.
Mit einem Durchschnittsalter von 24,5 Jahren der eingesetzten Spieler (Quelle: transfermarkt.de) steht man auf Platz 2, lediglich Hradecky (32) war als ü30 Spieler unangefochtener Stammspieler.
Der Kader
Torhüter: Außer Hradecky spielte kein Torhüter eine größere Rolle, dieser spielte die meiste Zeit solide bis gut, hatte aber immer mal wieder Böcke drin, die vor allem in K.O.-Spielen leider teilweise Spiele entschieden haben seit seiner Zeit hier (zuletzt DFB-Pokal gegen den KSC). Lunev soll wohl gehen, Grill verliehen werden.
Abwehr: Tapsoba wieder in Form, der beste Spieler in der Spieleröffnung von hinten im Kader, fraglich, ob er noch eine Saison bleibt, wäre aber immens wichtig. Ansonsten vor allem Hincapie mit einem Einstand, mit dem nicht zu rechnen war, Frimpong wahnsinnig gut bis zur Verletzung und Tah vor allem mit einer guten ersten Saisonhälfte (in der zweiten Hälfte wirkte er teilweise überspielt).
Mittelfeld: Geprägt von Rotationen und Verletzungen auf der Sechs, Andrich sicherlich der wichtigste Faktor in der Arbeit gegen den Ball und im Spiel Box-to-Box. Ansonsten wird spannend sein, wie mit Aranguiz geplant bzw. sein Abgang 2023 vorbereitet werden wird, was mit Demirbay passiert und ob Baumgartlinger überhaupt ersetzt wird.
Sturm: Azmoun zeigte immer wieder Ansätze die Spaß machen und in den letzten Spielen auch über längere Phasen, Schick braucht keine weiteren Worte und Diaby ebenfalls (wirkte aber ebenso wie Tah, mit dem Zusatz der Ramadan-„Belastung“ teilweise überspielt), Wirtz und zuletzt auch Paulinho (Vertragsende 2023) wohl der spektakulärste Teil des Kaders.
Ich nehme mal an, dass viele Zugänge durch Abgänge bedingt werden, so es sie denn gibt. Tapsoba wird sicherlich auf kleinerer Ebene ersetzt werden, ebenso Paulinho (sollte er gehen) und auch Alario (der ja ziemlich sicher nach Italien oder Brasilien gehen wird). Ansonsten hat der Kader keine größeren Lücken mehr, außer die defensiven Außenbahnen und eines weiteren Glue-Guys (Begriff aus der NBA, mir fiel nichts anderes ein) im Mittelfeld.
Außerdem wirkt der Kader eben (s.o. Systemfrage) noch nicht ganz ausgewogen, manche Spieler „passen“ einfach nicht mehr so ganz zu der Spielidee von Seoane und müssten, würde man sich festlegen, eben ersetzt werden, so denn möglich.
Einen kurzen Absatz möchte dem sportlichen „Missverständnis“ Lucas Alario widmen. Als kurzzeitig teuerster Neuzugang der Geschichte geholt, ist er sportlich nie so richtig angekommen in Leverkusen. Bei keinem Trainer passte der Strafraumstürmer Alario so richtig, dennoch zeigte er immer Einsatz, wirkte nie wie ein Störfeuer oder isoliert in der Mannschaft. Auch nach der Winterpause zeigte er immer den Willen es allen zu zeigen und der Mannschaft zu helfen.
57 Tore, 16 Vorlagen in 7954 Minuten (88,3 Spiele auf 90 Minuten gerechnet) sprechen dann auch ihre eigene Sprache.
Welches Kleidungsstück wäre der Verein?
Aufgrund der Saison und der oben beschriebenen ambivalenten Haltung: Wir sind vor der Saison durch eine beliebige Innenstadt gelaufen, haben ein Jackett gesehen, dass wir unbedingt haben wollten, weil es einfach unfassbar gut aussah. Nichts hat mehr gesagt: Das bin ich, das passt zu mir, wie dieses Jackett. Und dann kommt der erste Anlass, der zweite, der dritte, der vierte und wir haben einfach keine passende Hose, Shirt, Schuhe in unserem Schrank, das perfekt passt.
Aber: Das Jackett ist trotzdem extrem geil und wir brauchen ja nur noch eine passende Hose oder Shirt oder Schuhe, damit uns das Outfit aber mal so richtig strahlen lässt (Titel und so )
Fragen an den/die Expert*in:
Völler wird ja in den Beirat gehen im Sommer, dieser wird immer als „mächtig“ beschrieben, öffentlich in Erscheinung tritt ja eigentlich nur Werner Wenning und selbst der selten.
Gibt es da irgendwelche Einblicke oder irgendein offizielles, grobes Aufgabenprofil?
Denn mit Rolfes wird ja ein neuer sportlicher Kommunikator auftreten, das war seit Jahrzehnten vorher Völler und Carro war ja, laut Medienberichten, damals eine Wunschpersonalie ebendieses Beirats.
Wird Carro also nun eine noch größere Rolle einnehmen?
P.S.: Da übergehe ich den Rudi doch glatt bei den Abschieden:Danke für alles, die Wutreden hättest du dir teilweise sparen können, jetzt muss man aber zumindest drüber schmunzeln
Wie wird mit der Jugendmannschaft verfahren? Es werden weiterhin jede Menge Talente aus dem Ausland geholt, die werden aber nicht alle in die Erste aufrücken (können). Am ehesten aktuell wohl Sertdemir, Bravo, Fofana und Pesch, aber auch für die dürften ja nur begrenzte Kaderplätze zur Verfügung stehen.
Gibt es Kooperationen mit kleineren Vereinen bspw. Aus den Niederlanden, sollen die Spieler nach der A Jugend überhaupt verliehen werden oder macht man wie Frankfurt eine Rolle Rückwärts hinsichtlich der Zweitvertretung?