Meine Sicht auf den BVB habe ich in drei Aspekten geschildert – ihre Stärke in knappen Spielen, Reus und Favre. Zur bisherigen Saison vom BVB gehören sicherlich noch zig andere Faktoren: Der neue Think Tank, taktische Lösungen und ein fabelhaft zusammengestellter Kader. Auch einzelne Spieler wie Witsel, Alcacer, die Innenverteidigung um Akanji/Diallo/Zagadou, ein mehrfacher Rookie-des-Monats Hakimi und ein überragender Sancho sind hervorzuheben – und das wurden sie auch. Oft und ausführlich. Genau deshalb habe ich mich versucht auf die etwas anderen Aspekte der bisherigen Saison zu fokussieren.
Besser spät als nie
Zu den Schlüsselspielen zählen in dieser Saison alle Auftritte im DFB-Pokal sowie das Augsburg-Spiel. Gegen Zweitligisten tat man sich im DFB-Pokal extrem schwer und konnte jeweils nur in der Verlängerung das Weiterkommen sichern. Im Heimspiel gegen Augsburg lieferte man sich einen engen Fight gegen einen Gegner, der mindestens auf Augenhöhe war und nur durch einen direkt verwandelten Freistoß der Marke „haltbar“ in der 96. Spielminute besiegt werden konnte. Hatten diese knappen Siege etwas mit Glück zu tun? Sicher. Aber auch mit der ungeheuren Mentalität und Nervenstärke, die sich der BVB von Spiel zu Spiel erkämpft hat. Last-minute-Siege, gewonnen Unentschieden – die vielen knappen Entscheidungen kippten meist zugunsten von Dortmund.
Käpt’n Reus
An Stammtischen hört man’s immer häufiger: „Das hätte man ihm so nicht zugetraut“. In Fach-Podcasts wie dem Rasenfunk erkennt der BMG-Experte: „Der hat schon damals den Mund aufgemacht“. Beides ist irgendwie richtig. Vom nervös an Nase und Ohrläppchen zupfenden On-air Reus, ist ein durchaus eloquenter und augenzwinkernder Mannschaftskapitän geworden – ein seltsamer Hybrid aus Christoph Kramer und Thomas Müller. Seine selbstbewussten Auftritte sowie die reflektierenden und euphoriebremsenden Worte nach Siegen sprechen von einem sehr reifen Menschen, der es wesentlich besser versteht, Mitspieler, Fans, Verein und Interviewpartner (Medien) zufriedenzustellen. Er füllt genau die Lücke, die Marcel Schmelzer in der Vorsaison nicht zu füllen wusste. Es ist ein Stückweit unfair, da es 2017/18 eine emotional und sportlich schwierige Saison für den BVB war. Der Kapitänswechsel war sinnvoll, nötig und goldrichtig. Und das aus 3 Gründen:
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Reus ist fußballerisch das Nonplusultra im Kader. Absolut unumstritten, an fast allen erfolgreichen Aktionen auf dem Platz beteiligt und, selbst bei eigener mäßiger Leistung, zumindest verbal und kommunikativ äußerst aktiv.
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Die soziale Komponente: Reus ist der mannschaftsinterne „missing link“ zwischen der Fortnite-Jugend und den Vätern. Nicht dass sich beides ausschließt. Doch Reus erreicht mannschaftsintern die Kiddies wie Sancho und Pulisic sowie die alte Garde wie Piszczek und Schmelle. Reus ist immer noch des BVBs größtes Zugpferd im Marketing. Gleichzeitig wird Reus Papa. Das scheint ein ziemlich boulevardeskes Argument zu sein – für mich ist es aber ein ganz entscheidendes.
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Reus ist (fast) verletzungsfrei, gewinnt dadurch Mut und weiß seine teils neuen Mitspieler ideal einzusetzen. Ob Bruun Larsen, Alcacer, Sancho, Götze, Philipp – Reus kann so ziemlich mit jedem Offensivspieler kombinieren. Zudem spürt man auf dem Platz, dass es Reus gut tut, wenn er einen Spieler wie Witsel hinter sich weiß. Der Offensiv-Käpt’n trifft auf den Defensiv-Käpt’n.
Favre
Ja, es ist nur eine Halbserie: Favre ist, Stand jetzt, der BVB-Trainer mit dem besten Punkteschnitt. Aller Zeiten. Maybe ever. Stolze 2,44 Punkte gibt es durchschnittlich pro Spiel. Nach waghalsiger Bosz-Ära und Stabilisator-Stöger hat es Lucien Favre geschafft, eine Balance im System zu entwickeln, die nicht immer perfekt geeicht scheint, aber zumindest nicht allzu große Abweichungen zulässt. Gepflegtes Spiel aus der Abwehr, Ballbesitz und Geduld gehört ebenso zum Repertoire wie kompaktes Verteidigen und blitzschnelles Umschalten. Die Spiele in denen das sehr schlecht oder gar nicht klappte gab es. Punkt. Die BVB-Führungsriege zeigte sich äußerst überrascht, dass Favres Spielstil so schnell fruchtete. Rückschläge wie ein torloses Remis gegen Hannover, ein deutliche Niederlage gegen Atletico und die zuletzt verdiente Niederlage gegen Fortuna Düsseldorf sind einkalkuliert, wenn auch nicht gewünscht. Da ich kein Taktikfuchs bin, suche ich Favres Erfolg woanders:
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Kommunikation mit den Medien: Absolute Ruhe. Pure Langeweile. Und wahrscheinlich genervte Journalisten. Favre kocht die Medien sympathisch lächelnd ab, ohne unhöflich, trotzig und arrogant zu sein. In gewohnter Manier versteckt sich Favre hinter seinem Akzent, bauchmiezelt hier und da einen Spieler und vergisst dabei nicht, auch die Spieler in der zweiten oder dritten Reihe lobend hervorzuheben.
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Kommunikation mit den Spielern: Sie scheinen ihn von der ersten Minute an zu verstehen. Reus sein alter Schützling. Guerreiro, Witsel, Zagadou, Diallo, Akanji, Bürki, Hitz – französischsprachig. Alle anderen Spieler heften sich an die Fersen der etablierten Spieler und boxen sich mit Englisch durch. Favre kommuniziert in einem durchaus internationalem Kader klar. Jeder Spieler woran er ist, auch wenn es für einzelne keine ideale Saison ist.
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Lernfähiger Wechsler: Hat man sich an den ersten Spielen der Saison noch gewundert, warum Favre spät oder gar nicht mehr wechselte, merkte man, dass er mehr und mehr die Stärken und Fähigkeiten der Spieler beurteilen konnte. Die Wechsel kamen früher, zielgerichteter und vor allem erfolgreicher. Wenn Favre lernt, lernt die ganze Mannschaft.
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Spiel-zu-Spiel-zu-Spiel-zu-Spiel denken: Auch eine Geschichte, die Favre nach jedem Spiel aus dem Hut zaubert. Trotz der ewigen Wiederholung zündet diese Floskel jedes Mal. Keine wilden Konjunktivs, keine Einblicke in sein Denken, keine Angriffsfläche. Da schnabulieren sie Atletico 4-0 und der Blick geht sofort auf das nächste Spiel gegen Hertha. Wasser ohne Gas statt flaschenweise Rotwein. In der letzten Saison wurden hart erkämpfte Unentschieden und zittrige Siege zu Trendwenden hochgejubelt, alles „sieht ja schon ein ganzes Stück besser aus als letztes Spiel“. Favre ordnet, wie sein Kapitän Reus, Siege realistisch ein und stellt vor allem verbesserungswürdige Dinge deutlich heraus. Nur nicht ausruhen!
Wo hakt’s?
Ganz ehrlich. Als Fan sage ich: Einfach nirgendwo. Macht einfach so weiter. Kloppsches Understatement meets Tuchelsche Detailverliebtheit. Jetzt kann man natürlich personelle Problemzonen hervorheben, die noch nicht vorhandene Durchschlagskraft gegen extrem tiefstehende Gegner, ein zweiter Anzug, der (abgesehen vom 2-0 Auswärtssieg gegen Monaco) noch nicht wirklich sitzt. Der BVB wirkt austrainiert wie lange nicht mehr. Die Verletzungen halten sich im Rahmen. Okay, die IVs machen etwas Sorgen, aber die kurieren sich aus über den Winter. Dortmund wird keinen Einbruch in der zweiten Saisonhälfte erleben. Die Mischung aus erfahrenen und jungen Spielern, das Selbstvertrauen in knappen Spielen und die körperliche Verfassung sind der Grundstein für eine sehr gute Saison. Ob sie mit einem Titel belohnt wird, weiß ich nicht. Dortmund wird noch Spiele verlieren. Ich halte sie aber für mental stark genug, um Bayern bis zum letzten Spieltag Paroli zu bieten.
Sorgenkinder
Bruun Larsen: Bockstarker Saisonauftakt, dann aber merklicher Abbau. Wirkt zu langsam in seinen Dribblings und 1-1-Aktionen. Verliert wertvolle Bälle im Angriffsspiel. Arbeitet dennoch viel und wirkt motiviert. Das veranlasst Favre um in der Startelf auf…
Pulisic:…zu verzichten. Außer Form, wenn auch noch stark genug, um eingewechselt zu werden. Zu stur in seinen Aktionen, zu späte Abspiele und nicht geeignet für kurze und schnelle One-twos an der Strafraumkante. Wirkt zu schnell frustriert. Ob der Kopf bereits auf der Insel ist? Möglich. Erklärt dennoch den deutlichen Leistungsunterschied zur Vorsaison nicht. Jadon Sancho lief Pulisic problemlos den Rang ab. History repeats itself: Ereilt Sancho kommende Saison das Gleiche?
Wolf: Für mich der einzige…hm, nicht Fehlkauf…aber diskutable Transfer. Butter bei die Fische: Wolf hat nicht die spielerische und individuelle Qualität, um sich fest in die Mannschaft zu spielen. Zu Saisonbeginn gab es einige Ausreißer nach oben, aber auch viel Leerlauf und Mittelmaß. Sein stolzes Gehalt wirkt da schon, naja, nicht ganz seiner Rolle im Team entsprechend. Er hatte zwar immer mal wieder mit kleinen Verletzungen zu kämpfen, die sicherlich nicht förderlich für die Integration ins System waren, doch so wirklich traue ich ihm den Durchbruch beim BVB nicht zu.
Mehr gibt es kaum zu meckern: Die restlichen Personalien sind klar wie Klosbrühe…
Kagawa…spielt keine Rolle mehr. Darf sich einen neuen Verein suchen.
Rode…spielt keine Rolle mehr. Darf sich vermutlich der Eintracht anschließen. Leihweise.
Weigl…Super wichtig als Rotationsspieler. Zudem seit dem BMG-Spiel auch mal als IV zu gebrauchen. Wie es nach der Saison weitergeht: Meiner Meinung nach stehen die Zeichen eher auf Abschied.
Isak…spielt keine Rolle mehr. Schade drum. Isak ist noch ein Stück vom Bundesliga-Niveau entfernt. Vor allem aber wenn eine Mannschaft erfolgreich spielt, wird es für einen 19-jährigen schwer, in die Mannschaft zu rotieren. Das größte Warnsignal: Selbst bei Stürmerengpässen ist Isak keine Alternative.