#19: Mainz – das unangenehmste Team der Liga!

Ich meine schon, dass das untrennbar zusammenhängt. Die Unschuldsvermutung kann ja von den Anklägern widerlegt werden, und dann wird der Angeklagte verurteilt. Die Ankläger machen das durch die Vorlage von Beweisen, die sie gezwungen sind, zur Unterstützung der Anklage vorzulegen. Dreht man die Beweislast um, bürdet man dem Angeklagten auf, seine Unschuld zu beweisen. Das kann dem Angeklagten gelingen oder nicht. Tut es das nicht, wird er verurteilt. Daher ist, wenn man die Beweislast umkehrt, automatisch auch die Unschuldsvermutung umgedreht zu einer Schuldvermutung. Und es ist ungleich schwieriger, seine Unschuld zu beweisen, also etwas nicht getan zu haben, als zu beweisen, dass man etwas getan hat.

Ich bin nicht in der Diskussion um Reformen des Sexualstrafrechts drinnen, es ist jedoch offensichtlich, dass in diesem Bereich die Unschuldsvermutung strukturell gegen die Opfer wirkt. Aber sie deswegen abzuschaffen ist falsch und gefährlich. Es muss da eine andere Lösung gefunden werden (nur welche?). Du findest keinen Rechtstaat, der ohne Unschuldsvermutung auskommt, aber eine Reihe von Diktaturen und Schreckensregimen, in denen das faktisch der Fall ist. Denen hilft das nämlich beim aus-dem-Verkehr-ziehen ihrer Oppositionellen. Ich denke da an Russland.

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Zweifel an diesem Zusammenhang ist glaube ich der Auslöser des Aktivismus pro Beweislastumkehr.

Aber in einem Strafprozess ist der Ankläger stets der Staat, der Beweise sammelt und vor Gericht vorlegt. Das Gericht entscheidet dann über die Strafe. Alles was eine Beweislastumkehr tun würde, wäre die aktuelle strukturelle Ungleichheit zugunsten des Opfers zu verschieben, da wird eben keine Unschuldsvermutung abgeschafft.

Wo die strukturelle Ungleichheit liegt, ist eine politische Entscheidung und dass ein Strafgesetzbuch, das in großen Teilen zwischen 100 und 80(!) Jahren alt ist, die politische Entscheidung patriachal gefällt hat, ist wenig überraschend und wie ich finde eben diskussionswürdig, damit werden keine rechtsstaatlichen Prinzipien abgeschafft.

(Disclaimer: Ich bin auch kein studierter Jurist, nur am Thema interessiert.)

Verzweifelt und ob der fortgeschrittenen Tageszeit ermattet, fällt es mir schwer den Zusammenhang zu meiner Aussage und das Argument zu finden.

Ich habe es eben beschrieben, wieso das doch so ist. Versetze Dich in die Lage eines Richters. Du hast null Ahnung was abgeht, Du siehst alle Beteiligten zum ersten mal in Deinem Leben. Jetzt liest einer eine Anklage vor und verlangt von Dir den anderen zu verurteilen. Der andere sagt, das war ich nicht; lass mich frei. Was machst Du? Glaubst Du dem einen oder dem anderen? So wie es dir gerade gefällt? Heute mal diesem, morgen mal jenem? Kannst Du machen, aber dann bist du Teil eines Willkürregimes. Also los - was machst Du?

Du fragst nach Beweisen, würde ich sagen. Aber wen? Wenn du den Ankläger nach Beweisen fragst, muss der Nachweise erbringen, die die Schuld des anderen beweisen (seine Unschuld widerlegen). Fragst Du den Beschuldigten, ist es genau umgekehrt. Fragst du den Ankläger, und er kann keine Beweise vorlegen, musst Du logischerweise den anderen freilassen. Fragst du den anderen und er kann keinen Beweis seiner Unschuld vorlegen, musst Du ihn verurteilen.

Wenn ich (und ich bin der Boese hier), herausfinde, dass Du dem Angeklagten die Beweislast aufdrückst und ihn verurteilst, wenn er nicht liefert, dann zeige ich alle hier im Forum, die mir widersprechen, wegen Beleidigung, Verleumdung und Steuerhinterziehung an. Da kann niemand das Gegenteil beweisen, alle werden weggesperrt und ich habe endlich meine Ruhe [/Scherz aus]. Beweislast und Unschuldsvermutung sind untrennbar miteinander verbunden.

Hier liegst Du meilenweit falsch. Glaub bitte nicht, so ein Meilenstein der Rechtsstaatlichkeit wurde etabliert, um Vergewaltiger zu schützen, und aus dem oben gesagten sollte sich Dir ohne weiteres erschließen, warum das nichts mit dem Patriarchat zu tun hat. Unsere Strafprozessordnung ist übrigens über 140 Jahre alt, aber die Ausformulierung der Unschuldsvermutung stammt aus der französischen Revolution. Die Revolutionäre haben sie schriftlich fixiert, um das Volk gegen staatliche Willkür zu schützen. Napoleon hat sie in die erste Strafprozessordnung der Welt aufgenommen und in ganz Europa (soweit es sich demokratisierte) wurde das Vorbild . Da ist nichts patriarchalisches dran, außer Du machst fundamentale Bürgerrechte zu einem exklusiven Vorrecht der Männer (machst Du nicht, weiß ich, aber das wäre die Konsequenz Deines Gedankengangs).

Ich unterstelle hier keine bösen Absichten, aber hier passen so viele Dinge historisch einfach nicht:

  • Zur französischen Revolution und unter Napoleon waren Bürgerrechte auf Männer beschränkt. Olympe de Gouges, die sich für Frauenrechte einsetzte, ließen die Revolutionäre mit der Guillotine hinrichten und der unter Napoleon etablierte „Code civil“ (das französische BGB) entmündigte die Frau bei der Heirat
  • Ähnliches gilt beim Strafrecht. Der napoleonische „Code pénal“ (das Strafgesetzbuch) sah zum Beispiel für Ehebruch unterschiedliche Strafen vor und erlaubte es dem Mann, seine ehebrechende Frau „zurückzunehmen“ und sie somit vor der Strafe zu bewahren.

So wie ich @wechselgeruecht verstanden habe, basiert unser Recht größtenteils auf einer Zeit, in denen Frauen keine staatsbürgerliche Gleichheit genossen. Das bestreitest du ja auch nicht. In der Konsequenz benachteiligt es die Frauen, die bei der Gesetzgebung damals ja auch nicht mitbestimmen konnten. Die deutsche Strafprozessordnung ist, was Vergewaltigungen angeht, äußerst problematisch, nicht sensibilisierte Polizisten und Staatsanwälte tun ihr Übriges. In Kombination mit der Unschuldsvermutung ergibt sich ein toxischer Cocktail, bei der das Opfer (und das ist nun einmal mehrheitlich weiblich) zwischen einem langwierigen, potentiell retraumatisierenden und oft entwürdigenden Prozess und einer legalen „Unschuld“ für den Täter wählen muss.

Das soll jetzt nicht heißen, dass ich die Unschuldsvermutung jetzt per se schlecht finde. In Kombination mit der gelten StPO führt sie aber zu einer Situation, in der sich reiche und mächtige Menschen in Fällen von Sexualstraftaten hinter einer Armada von Anwälten, einem i.d.R. nichtöffentlichen Prozess und eben auch der Unfähigkeit der Medien, aufgrund der Unschuldsvermutung Dinge klar zu benennen, verstecken können.

Ich habe vor ein paar Jahren mal in Frankreich ein minderjähriges Mädchen kennengelernt, dass von einem minderjährigen Jungen vergewaltigt wurde (es gilt die Unschuldsvermutung*). Ich erspare euch die Details, aber obwohl Frankreich juristisch etwas weiter ist, was eine effektive Verfolgung von Sexualstraftaten betrifft, ist es in einer solchen Situation unglaublich schwierig, so etwas wie „Gerechtigkeit“ oder „faire Bestrafung“ zu schaffen. Ich weiß nicht, ob der Täter je schuldig gesprochen wurde (vielleicht war oder wäre kein Verfahren die bessere Lösung), aber wenn er eines Tages als Profisportler irgendwo unterschreiben würde, wäre ich entsetzt, juristische Unschuld hin oder her.

*Wäre ich Journalist, müsste ich es hinzufügen

Die Problematik, die du beschreibst ist da, keine Frage, aber das Strafgesetzbuch (Code Penale) und das BGB (Code Civil) stellen materielles Recht dar, regeln also die gesellschaftlichen Verhältnisse außerhalb des Gerichtssaals. Die waren damals auf jeden Fall patriarchalisch in den Bereichen, in denen das Geschlecht eine Rolle spielte - also insbesondere Familie und Ehe sowie Sexualstraftaten. Das Prozessrecht, das die Verhältnisse im Gerichtssaal regelt, kennt keine Geschlechterrollen, es gilt für jeden Angeklagten und für jeden Ankläger, egal welchen Geschlechts. Es gibt auch keine speziellen Prozessvorschriften für Sexualstraftaten (es könnte aber sein, das neue Vorschriften zum Opferschutz hinzugefügt wurden - die gelten aber auch für Frauen wie Männer).

Was ich nicht verstehe ist, dass der Fokus auf die Problematik von Sexualstraftaten vor Gericht so eng ist, dass man bereit ist, ein Prinzip aufzugeben, dass mMn doch jedem als das einzig rechtstaatliche ins Auge springen müsste. Egal ob die Unschuldsvermutung von Männern erfunden wurde (wurde sie) oder in einer Zeit, die patriarchalisch war - sieht denn niemand, dass das völlig egal ist, wenn man sich den Rechtsgedanken dahinter anschaut? Der ist doch absolut universal. Du hast meinen Post oben gelesen, wovor die Unschuldsvermutung uns alle schützt - glaubst Du, was ich da beschreibe, ist nur für Männer gemacht?

Das Problem der durch die Unschuldsvermutung schwer zu verfolgenden Straftäter lässt sich nicht durch die Abschaffung der Unschuldsvermutung lösen. Das ist so ähnlich, als ob man z.B. das Problem, dass die AfD eine Mehrheitspartei im Bundestag werden könnte, durch Abschaffung der Bundestagswahl lösen möchte. Das Problem einer Mehrheits-AfD wäre dadurch in der Tat gelöst, und dafür würde man sogar nur ein ein einziges Grundrecht abschaffen müssen … das will doch auch keiner. Aber dann ein Grundrechtsprinzip aufgeben, dass es der AfD ermöglichen würde, alle Ausländer bequem aus dem Land zu jagen (verurteilte Ausländer werden in der Regel ausgewiesen und das Urteil ist ohne Unschuldsvermutung simpel zu erlangen). Und alle Gedankengänge dazu mit der Keule ‚Patriarchat‘ abschmettern. Ich verstehe es nicht. Bin jetzt aber zu müde. Aber danke für Deine Darstellung der Problematik, die finde ich sehr treffend.

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Ich verstehe deinen Punkt zur Unschuldsvermutung und in meinem laienhaften Verständnis von Juristerei und Rechtsstaatlichkeit unterstütze ich ihn auch. Auch ich kenne noch keinen Weg, Alternativen zur Unschuldsvermutung mit der Rechtsstaatlichkeit in Einklang zu bringen.

Das Problem für mich ist, dass eine Debatte zu dem Thema, die vor allem von Männern geführt wird, meist genau an diesem Punkt endet. Und viele (z.B. du, aber auch ich) haben auch bekundet, dass es „andere Wege“ geben müsse, und dass wir diese nicht kennen.

Ich denke, genau da hapert es: dass in den meisten Fällen wir Männer (die sich ja nicht als Betroffene von sexualisierter Gewalt wahrnehmen) auch keine Notwendigkeit sehen, sich über diesen „keine Ahnung“-Punkt hinaus mit dem Thema zu beschäftigen.

Deswegen habe ich jetzt mal gegoogelt und mir meine Abendlektüre zusammengestellt (trotz Bremen vs Mainz), die zumindest mir aufs erste Draufschauen interessante Einblicke und Standpunkte bieten könnte, über diesen „keine Ahnung“-Punkt hinaus zu kommen. Und weil ich mir vorstellen kann, dass auch andere hier daran interessiert sein könnten, teile ich meine Entdeckungen gerne mit euch.

Hier Erfahrungen mit der letzten Reform des Sexualstrafrechts und Einsichten über das Klima, in dem bestehende Gewaltverhältnisse debattiert werden:

Hier vielleicht ein Ansatz, über das Unschuldsvermutungsdilemma hinaus zu kommen. Allerdings würde das bedeuten, dass wir sehr viel anders denken müssten:

Ich hab noch keine Meldung gefunden, ob das Gewalthilfegesetz heute trotz des peinlichen Merz-Schauspiels durchgegangen ist.

Unter den jew. Stories findet mann auch viel weiterführendes.

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Ich denke ein Problem ist auch, dass sexualisierte Gewalt nicht immer objektiv bestimmbar ist. Letztlich geht es ja um das Einvernehmen der Akteure, aber das kann man letztinstanzlich nur im Kopf sehen.

Wollte die Frau das oder nicht? Hier finde ich das deutsche Recht problematisch, weil es von einem Einvernehmen ausgeht es sei denn Widerspruch wurde nachgewiesen („Nein ist Nein“). Andere Länder sind da weiter. Es wird bspw in Schweden von einem Übergriff ausgegangen es sei denn es lag eine explizite Zustimmung vor („Ja ist ja“).

In beiden Fällen gilt die Unschuldsvermutung. Aber es ist doch absurd, dass eine Frau beweisen muss, dass sie das nicht wollte. Muss ein Ladenbesitzer auch nachweisen, das er nicht bestohlen werden wollte? Das sein „leg das zurück“ nicht nachdrücklich gewesen sei und zum weitermachen verleitet hat? Nein, den es wäre absurd. Eben.

ich bin kein Anwalt etc etc.

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