Eine franzosische Enthüllungszeitschrift hat als Wahlspruch (übersetzt): „Wenn man die Pressefreiheit nicht nutzt, nutzt sie sich ab.“ In diesem Sinne finde ich deine Herangehensweise zu Katar wirklich sehr gut. Ich bin allerdings in deinem Monolog über etwas „gestolpert“, was mir keine Ruhe lässt: Bei ca 1:42:00 sagst du sinngemäß, die strengere Teilung von Kirche und Staat in Europa liege an der Aufklärung.
Um dich vom Gegenteil zu überzeugen, blicke ich zunächst etwas in die Geschichte. In einem ersten (eher sachlichen Teil) geht es um Europa, in einem zweiten (eher meinungsgefärbten, so gut kenne ich mich da leider nicht aus) um die islamische Welt.
Für den ersten Teil gehe ich die europäischen Länder, bei denen ich mich auskenne, der Reihe nach durch: In England besteht während der Revolution im 17. Jahrhundert zeitweise eine Diktatur deren führende Köpfe, nun ja, sehr strenggläubige Puritaner waren. Die schlechten Erfahrungen verankern die Ablehnung religiöser Extremisten tief in der englischen politischen Kultur. Da nach der Revolution sich eine katholische Dynastie abzeichnet und die katholischen KönigInnen sich nicht sehr religionstolerant geben, ändert das Parlament zum Beginn des 18. Jahrhunderts die Thronfolgeregelung, erlässt Gesetze zum Schutz von Nichtkatholiken und sorgt somit für eine weitgehende Religionsfreiheit. Zwar ist der König auf dem Papier religiöses Oberhaupt, sorgt aber durch sein Handeln für eine weitestgehende Trennung von Kirche und Staat.
In Frankreich sind noch zu Zeiten der Aufklärung Krone und Klerus eng miteinander verbunden. In der Revlution schaffen die Revolutionäre zwar kurzzeitig Gott per Gesetz ab, aber Napoleon schließt schließlich mit dem Papst ein Konkordat, welches die katholische Kirche zur de-facto Staatsreligion erhebt und Napoleon das Recht einräumt, die Bischöfe zu ernennen (Fun Fact: Dieses Konkordat ist im Elsaß noch in Kraft, der Erzbischof von Straßburg wird nach wie vor nicht vom Papst sondern vom französischem Präsidenten ernannt). Die enge Bindung bleibt in Frankreich bis zur Dreyfus-Affäre, welche den republikanischen Vorstreitern den starken Einfluss der Kirche vor Augen führt. Dies führt zur radikalen Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905, welche bis heute Staatsräson ist (und der Grund ist, warum in vielen Schulen keine Weihnachtsbäume stehen). In den skandinavischen Ländern ist die jeweilige protestantische Kirche bis teilweise weit ins 20 Jh. ganz offiziell Staatskirche, was sich in der Regel auch in den Verfassungen niederschlägt. In Russland gibt es noch gegen Ende des 19. Jh. eine starke Rückbesinnung der Monarchie auf ihre kirchlichen „Wurzeln“, die dann mit der Oktoberrevolution brutal ins Gegenteil umschlägt. Und in Deutschland… In Preußen hat man eine starke religiöse Rückbesinnung unter Friedrich Wilhelm IV. (1. Hälfte 19. Jh.), die uns in den heutigen Tagen in Gestalt des Berliner Stadtschlosses wieder heimsucht. Die Trennung von Kirche und Staat geschieht größtenteils ab 1871 unter Bismarck im „Kulturkampf“ (und damit vor den Franzosen!). Besonders stark betrifft dies das Bildungswesen und das Zivilrecht, sehr streng ist die Trennung aber nicht. Nach der Novemberrevolution gibt es Stimmen, Kirche und Staat ähnlich streng wie in Frankreich zu trennen, diese sind aber nicht mehrheitsfähig. Stattdesssen wird ein eher vager Kompromiss gefunden. Beim Verfassen des Grundgesetzes hätte es die Möglichkeit gegeben, das Thema noch einmal anzufassen, stattdessen behielten die entsprechenden Verfassungsartikel (und nur diese!) ihre Gültigkeit.
Nun zum „eingefärbten“ Teil: Die Trennung von Kirche und Staat erfolgte meist parallel zur Schaffung der Nationalstaaten und unter der Angst einer „fremden“ Einflussnahme. Deshalb erwischte es die katholische Kirche in der Regel schwerer, weil sie mit dem Papst nun einmal eine Person hatte, die im selben Zeitraum (1870) für sich beanspruchte, unfehlbar zu sein und in gewisser Weise über alle Katholiken zu „herrschen“. Interessanterweise verläuft diese Nationalstaatenbildung in Europa parallel zu einer Hochphase des Kolonialismus, der auch die islamischen Staaten betrifft. Dies führt dazu, dass der Widerstand gegen die Kolonialherren häufig über die islamischen Religionsgelehrten organisiert wird und das gerade aus denen, die sich in erster Linie religiös unterdrückt fühlen, die großen Freiheitskämpfer werden. Mir fallen hier aber auch zwei Gegenbeispiele ein: Die Türkei, die sich immer noch gerne auf ihre Sekularität beruft, und Persien, was der Kolonisierung durch Großbritannien entkommt und sich zu einem sekluarem Staat entwickelt, bis die USA massiv religiöse Extremisten fördern (unter ihnen ein gewisser Khomeni), um einen Regierungschef aus dem Amt zu jagen, der das Erdöl verstaatlichen will. Insgesamt ist die Situation aber komplex und gerade in den letzten Jahrzehnten hat in vielen islamisch gepägten Staaten eine Rückbesinnung auf die Religion stattgefunden.
Zur Aufklärung schließlich möchte ich sagen, dass die meisten Ihrer Vetreter nach eigener Aussage ziehmlich religiös waren (Voltaire: „Gäbe es keinen Gott, müsste man ihn erfinden“, oder Leibnitz’ Versuch die offensichtliche Ungerechtichkeit eines vermuteten Allmächtigen irgendwie zu rechtfertigen). Fichte ist hier eine Ausnahme. Sie standen aber in der Regel den kirchlichen Institutionen und Autoritäten skeptisch gegenüber, weil sie sich von diesen nicht vorschreiben lassen wollten, wie sie über Gott nachdenken sollten. Natürlich bereiteten sie damit die Trennung von Kirche und Staat vor. Aber der Bruch geschieht in den meisten Staaten durch die Nationalstaatenbildung, die Industrialisierung und den wissenschaftlichen Fortschritt (Darwin!) im 19./20. Jahrhundert.
Ich möchte mich zum Schluss noch für diesen sehr langen Beitrag, der ja nun wirklich nichts mit Fußball zu tun hat, rechtfertigen. Ich möchte diesen Thread wirklich nicht kapern, es geht mir wirklich nur darum, zu zeigen, wo in der Geschichte Religion zur Privatsache geworden ist. Ich konnte ihn auch nicht irgendwo anders posten, weil es um ein Zitat aus genau dieser Sendung geht. Und es soll auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Ich weiß (auch wenn ich ihre Meinung manchmal nicht teile), dass die humanistischen Weltanschauungsgemeinschaften sehr interessante Texte zum Thema verfasst haben, in denen sie auch zeigen, an welchen Stellen in Deutschland Kirche und Staat eben nicht so recht getrennt sind. So etwas ist sicher ein guter Ausgangspunkt, wenn man sich mit dem Thema tiefgründiger beschäftigen möchte. Meine Motivation, hier so einen ellenlangen Beitrag zu scheiben, liegt darin begründet, dass ich dieses „Wir haben in Dtl./Europa eine Trennung von Kirche und Staat, weil…“ in der Regel wirklich etwas geschichtsvergessen finde. Es kommt dann meistens entweder die Reformation oder die Aufkläung. Der Kulturkampf wird einfach ausgeblendet, übrigens auch von denjenigen, die immer bei der ersten Gelegenheit „Islamfeindlich“ rufen, bei denen man aber nicht das Gefühl hat, dass sie sich mit der Geschichte der Religion im öffentlichen Raum in Europa je auseinandergesetzt haben.