Schiedsrichter*innen und Regeln

Exkurs:
Kennt ihr eigentlich das Küstenlinien-Paradoxon?
Aufgefallen ist es irgendwann Mitte des 20ten Jahrhunderts als Portugal und Spanien zwei unterschiedliche Längen für ihre gemeinsame Grenze angaben und beide hatten Recht – also irgendwie.
Es stellte sich heraus, dass die Länge der Grenze davon abhing wie kleinteilig gemessen wurde. Hier als Veranschaulichung ein Bild aus der deutschen Wikipedia:

Natürlich haben Mathematiker dann versucht das Verhalten in eine Formel zu pressen und es wurde auch eine gefunden die besagte dass eine Küstenlänge antiproportional mit der Messgenauigkeit steigt. Also wann immer ich die Messgenauigkeit verdoppel, wird die Länge der Küstenlinie um einen charakteristischen Faktor länger. Das gilt auch für bestimmte Bereiche, aber wenn ich sehr genau messen würde, dann wäre die Küste unendlich lang – zumindest laut der Formel. Das Problem liegt darin, dass „Küstenlinie“ einfach irgendwann nicht mehr definiert ist. Wie lang würdet ihr sagen ist die Küstenlinie in diesem Bild genau?


Bitte berücksichtigt zusätzlich den Wellengang, da wir ja genau messen wollen und die Kamera uns die zentimetergenaue Auflösung ermöglicht – also theoretisch.

Warum erzähle ich das hier? Weil ich bei den Regeldiskussionen, insbesondere wenn es um das Handspiel geht, sehr häufig daran denken muss.

Küstenlinien in der Entscheidungsfindung
Stell dir vor es wäre deine Aufgabe zu entscheiden ob ein bestimmter Ort auf einer Karte im Meer oder an Land ist. Damit es nicht allzu langweilig wird, bist du dabei Astronautin auf der ISS und guckst von „oben“ auf die Erde hinab. Die meisten Punkte sind relativ einfach weil sie kilometerweit im Landesinneren liegen oder weit draußen auf hoher See. Aber es gibt immer wieder Orte die zu dicht an der Küste liegen, als dass du es sicher sagen könntest.
Wenn du dann mal falsch liegst, können die Leute, die unten an der Küste leben, das meist sehr schnell erkennen aber sie mussten es ja auch nicht aus 400km Höhe beurteilen. Außerdem gibt es immer wieder Fälle wo sich sogar die Leute da unten uneins sind. Sollte der Punkt zufällig auf einem kleinen Stein in der Brandung liegen (siehe Bild oben) ist er dann im Meer oder an Land? Sie streiten sich ewig und sind sich sicher du wärst bestimmt ihre Meinung wenn du es doch nur besser gesehen hättest.

Irgendwann kommt dann die Frage auf, warum du das von da oben eigentlich beurteilen sollst. Die Leute können es vor Ort ja selbst besser sehen, warum kommst du nicht auch einfach vorbei. So be it!
Also stehst du jetzt direkt am Strand und kannst viel besser deine Entscheidungen treffen, wenn es auch ab und an ein bisschen länger dauert mit der Anreise. Dann kommt der erste Fall bei dem der gesuchte Ort auf genau so einem kleinen Kiesel mitten in der Brandung liegt. Durch den Wellengang verschwindet er hin und wieder aus dem Blickfeld, aber er ist klar zu erkennen. Wie entscheidest du dich nun?

Egal welche Entscheidung du triffst: Einige der Leute werden schockiert(!) sein, dass du so entschieden hast. Du hast es ja ganz deutlich gesehen und wie kannst du bloß denken der Stein, der aus dem Meer ragt, wäre ein Teil des Meeres? Der ragt doch raus?! Oder sie rufen das sei doch nie im Leben ein Teil des Landes. Der Kiesel ist bei Flut eh ständig unter Wasser und die paar Quadratzentimeter als „Land“ zu bezeichnen sei doch einfach lächerlich. Lächerlich!
Da haben sie dich endlich aus der Raumstation geholt damit du das gleiche Bild siehst wie sie, und du bist trotzdem anderer Meinung?

Also streiten sich alle darüber ab wann ein Stein als „Land“ gilt und ab wann nicht. Wie groß soll die Fläche sein die herausragt? Bei Ebbe oder bei Flut? Was ist mit dem Wellengang. Spielt vielleicht der Abstand zur nächst größeren Landmasse eine Rolle? Wie groß muss die „nächst größere“ Landmasse sein?
Du stehst daneben und versucht anhand der dir zugeworfenen Definitionen so objektiv wie möglich zu urteilen aber der Streit bleibt groß. Ein Teil der Leute vertieft sich immer weiter in widersprüchlichen Definitionen während ein anderer nur noch die Hände in die Luft wirft und ruft „Land ist Land und Meer ist Meer. Was gibt es da überhaupt zu diskutieren?“.

Der nackte Fußball
Ich glaube die meisten Leute haben schon lange verstanden worauf ich mit dieser Parabel hinaus wollte. Dazu möchte ich nur noch anmerken, dass sie absolut wertneutral sein sollte und weder für noch gegen den VAR argumentiert. Das beschriebene Dilemma, bzw das analoge Dilemma im Fußball, entstand meiner Meinung nach einfach zwangsläufig mit der Einführung des VAR. Der Fußball versucht derzeit mit neuen Messmethoden eine Auflösung zu erreichen, die das Regelwerk gar nicht hergibt. Das war vorher nur nicht so offensichtlich, da der Schiedsrichter die größte Ungenauigkeit war. Hatte er die „falsche“ Entscheidung getroffen, dann hatte er die Szene wohl nur nicht richtig gesehen oder es war einfach zu schnell für das nackte Auge. Das Regelwerk wurde quasi durch den Schleier der menschlichen Fehlbarkeit an den Fußball angelegt.

Durch die Einführung des VAR wurde dieser Schleier aber nun herunter gerissen und folglich die Fußballregeln wiederum in IHRER Fehlbarkeit entblößt. Regeln die wir alle schon lange kannten und nie angezweifelt hatten passten plötzlich unter dem nackten, kalten Licht des analytischen VARs nicht mehr zum Spiel.
„Das absichtliche Spielen des Balles mit der Hand“ war früher so einfach, aber was heißt überhaupt „absichtlich“? Was bedeutet „spielen“? Und ab wo beginnt die „Hand“?
Die Regeln MUSSTEN zwangsläufig genauso steril und kalt werden wie die Messmethode für ihre Anwendung. Dabei wurde aber übersehen, dass wir nur tiefer und tiefer in den Kaninchenbau rennen. Statt „absichtlich“ wird jetzt über „natürliche Armbewegung“ diskutiert. Doch was ist „natürlich“? Um diese Ungewissheit zu eliminieren wird definiert „die Armhaltung oberhalb Schulter ist nicht natürlich“, aber ab wann ist der Arm über der Schulter? Muss die ganze Hand über der Schulter sein oder nur ein Teil? Welche Schulter überhaupt? Nur die an der der Arm dranhängt? Und so wird jede Regel mehr und mehr seziert, bis ins aller kleinste Detail und noch weiter. Der nackte Fußball wird dabei in seine Einzelteile zerlegt, welche dann in der Unschärfe der Quantenwelt zerfließen.

Die Leiden des jungen VARter
Mit der Einführung des VAR hat man sich meiner Meinung nach auf einen Pfad begeben der zwangsweise nur in eine Richtung führen konnte. Hätten wir also auf der anderen Seite des Vorhangs bleiben sollen? Dort wo die Stürmer noch ohne jeglichen Kontakt durch die Strafräume flogen, Spieler sich nach leichtesten Berührungen zu Boden warfen und abseits des Balles Tätlichkeiten begangen wurden? Nur damit der Schiedsrichter am Ende ein Phantomtor gibt und damit den eigenen Herzensverein in den Abgrund stößt? Wollen wir lieber den süßen Schmerz der Romantik?

Fazit
Ich weiß es nicht. Ich kann es ja nicht einmal für mich selbst nicht entscheiden welchen Pfad ich gehen würde, wie sollen wir das da gemeinsam schaffen mit vielen verschiedenen Meinungen? Jeder Mensch lebt und liebt den Fußball anders. Wer den Fußball zu hause auf dem Bildschirm schaut, taktisch seziert und über die Feinheiten der Regelauslegungen diskutiert erlebt einen gänzlich anderen Fußball als jemand der in der Kurve steht, hüpft und singt während ein Fahnenmeer den Blick auf auf des Spielfeld versperrt.
Von daher können wir vortrefflich über den VAR und dessen Abschaffung diskutieren, aber ein gemeinsamer Konsens – geschweige denn eine „richtige“ Entscheidung – wird für uns so unerreichbar sein wie eine präzise Handspielregel die dem Geiste des Fußballs gerecht wird.

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