Nachdem ich gerade das SR Segment durch habe, sind mir einige Gedanken gekommen, die ich gerne Teilen würde.
Zunächst will ich darstellen, wieso ich es für völlig falsch fände, den VAR wieder abzuschaffen, wie es ja doch viele Fans wünschen und fordern, auch wenn es nicht kommen wird. Den VAR wieder abschaffen würde bedeuten, dass sämtliche Menschen vorm TV, mittlerweile sämtliche Trainierbänke, und via social media eigentlich auch mit nur kurzem Delay ALLE, die irgendwie dieses Spiel sehen, besser über die Situation informiert wären, als der einzige, der darüber zu entscheiden hat. Die doppelt-blinde Justitia quasi. Alle sehen sofort die Superslowmo, nur der, der entscheidend ist, hat nur seinen einen Eindruck und dazu maximalen Zeitdruck.
Den VAR Abschaffen würde bedeuten, dass es an jedem Spieltag im Schnitt 3 grobe Fehlentscheidungen mehr geben würde. Selbst, wenn wir davon ausgehen, dass die Diskussion nach einem vermeintlichen VAR Fehler intensiver wäre (wage ich zu bezweifeln), hätten wir sicherlich nicht weniger Diskussionen über die Entscheidungen in Summe. Und mir geht es dabei vor allem um die unsachlichen Shitstorms. Ich weiß es doch von mir selber, wenn eine klare Fehlentscheidung der Grund ist für die Niederlage, dann sind meine Emotionen höher, als wenn wir völlig zurecht verlieren, weil der VAR ein klares Handspiel vorm Tor bemerkt hatte.
Ein ebenso positiver Effekt ist mMn, dass seit dem VAR viel weniger der SR als Person im Kreuzfeuer ist, sondern die Wut, die Beschimpfungen, die Drohungen sich viel mehr an das Konstrukt richten. Wie gesagt, es geht mir nicht um die konstruktive Kritik, sondern um das allgemeine Gepöbel. Wann habt ihr das letzte Mal „Schiri, wir wissen wo dein Auto stand…“ gehört? Ich finde das gut, dass diese persönlichen Drohungen enorm weniger geworden sind.
Kaum gesagt wird auch, dass versteckte Tätlichkeiten und spielentscheidende Schwalben quasi komplett der Vergangenheit angehören. Nicht nur, dass sie viel konsequenter bestraft werden, sie werden logischerweise viel seltener überhaupt vollzogen. Wenn wir heute von „Schwalbe“ reden, denken wir an Nkunku, der geschickt einfädelt, nach leichtem Kontakt schon fällt. Ganz ehrlich, vor dem VAR wäre niemand auf die Idee gekommen, etwas mit Kontakt Schwalbe zu nennen. Spieler sind reihenweise einfach abgehoben, einen halben Meter vom Gegner entfernt, aber mit „gutem“ Winkel zum SR, und wurden regelmäßig belohnt. Das gibt es in dem Ausmaß einfach gar nicht mehr. Und das ist ein großer Gewinn für den Fußball.
Mich nervt diese VAR Diskussion unfassbar, weil sie auch einfach zu emotional geführt wird. Ich fühle mich oft an Impfdebatten während Corona erinnert. „Wenn die Impfung nicht zu 100% vor Infektion/ Fehlentscheidungen schützt, dann ist sie nichts wert.“ "Guck mal, es gibt sogar Fälle, da hat die Impfung geschadet ". Das ist jetzt natürlich schon ein etwas schräger Vergleich, aber diese Parallele sehe ich schon. Auch, dass für viele Fans der VAR dann das Zeichen wäre, dass unser Sport kaputt gemacht wird. Es ist nicht der überbordende Kapitalismus, nicht die unbändige Geldgier, nicht die Korruption der FIFA, nein, der VAR macht den Sport kaputt. Infantino liebt diese undifferenzierte Diskussion. Außerdem finde ich es irgendwie skurril, dass die Diskussion nicht mehr lautet, was wäre die gerechteste Entscheidung gewesen, sondern, war die erste Entscheidung so sehr ungerecht, dass sie geändert werden müsste, oder war es nur ein bisschen ungerecht?
Gehe ich also davon aus, dass der VAR weiterhin teil des Fußballs bleibt, hab ich weiterführende Gedanken auf Basis des Royal Segments.
Ein Punkt kann ich einfach kurz übernehmen, die Kommunikation rund um den VAR muss besser werden, auch wenn es bereits Besserung gab.
Ein anderer zentraler Punkt ist ja die Eingriffsschwelle. Da haben jetzt prominente Menschen, die die Challenge befürworten. Ich war etwas erschrocken, als auch Petra meinte, sie fand die Challenge eigentlich eine gute Idee. Und ja, auf den ersten Blick klingt es ganz verlockend die Verantwortung einfach an die Vereine abzuwälzen. Aber wenn ich mich hinsetze und überlege, wie das dann aussehen würde, kommen mir zich Zweifel und fette Fragen:
1. Wie lange hat denn der Trainer / die Bank Zeit, eine Challenge zu beantragen?
„gar keine“ → welcome back versteckte Tätlichkeiten. Wobei ich es funny fände, wenn der Trainer plötzlich auf die Schwalbe des eigenen Stürmers reinfällt.
„bis zur nächsten Unterbrechung“ → das heißt, der eine Trainer hat mal schnell 3 Minuten Zeit, alles überprüfen zu lassen, der andere keine 3 Sekunden, weil dann ist der Einwurf ausgeführt. Die Geste „warte, es wird noch was überprüft“ kann es ja nicht mehr geben.
„eine feste Zeitspanne, z.B. 1 Min“ → Als Freiburger weiß ich wie es ist, plötzlich mitten in der Halbzeitpause einen 11m gegen sich zu bekommen. Wäre dann relativ normal.
2. In welcher Situation würde so eine Challenge denn tatsächlich helfen? Jedes Team baut sich seinen eigenen Kölner Keller mit einer Reihe an eigenen Leuten, die jede Kameraeinstellung absuchen nach einer möglichen Fehlentscheidung. Es gab mal vor 2 Jahren oder so dieses übersehene Handspiel im 16ner. Da hätte das was gebracht. Aber sonst? Die Regel wäre doch: der Trainer fordert eine Überprüfung → der VAR schaut es sich an → „joa, kann, muss nicht“ → Entscheidung bleibt, Trainer rastet aus und hat auch noch seine Challenge für die Backpfeife von Ribery in der 87. verbraucht, oder „joa, muss zwar nicht, aber wenn der jetzt extra seine Challenge genommen hat…“ → darf dann der andere Trainer die Konter-Challenge ziehen?
3. Missbrauch ist Tür und Tor geöffnet. Selbst, wenn es irgendwelche Sperrzeiten 5 min rund um Abpfiff gäbe, (ab da hat Ribery wieder freie Hand oder wie?), nehme ich halt als Trainer des Teams, das 1-0 führt und hinten reingedrückt wird, halt in der 85.min die Challenge, um den Flow der Gegner zu unterbrechen.
In meinen Augen sehe ich da nicht im Ansatz, dass es auch nur eine Diskussion mehr gäbe, sondern viel eher, dass es viel mehr Unverständnis gäbe.
Aber ich will ja nicht nur meckern, sondern auch Konstruktiv was vorschlagen, weil die Eingriffsschwelle tatsächlich ein zentraler Knackpunkt des VAR ist. Und als Max am Anfang erwähnte, dass es ja niemand gibt, der eine Ausweitung des VARs sich wünscht, hab ich mich gefragt, ob man nicht genau das mal überlegen sollte. Meine Meinung dazu ist völlig uneins und ich sehe ganz viele Fallstricke, aber ehrlich gesagt weniger, als bei der Challenge. Also werf ichs mal ausm Kopf raus hier rein:
Wieso schaffen wir also die Eingriffsschwelle nicht einfach ab?
MMn wird es ohnehin Realität sein, dass wir in nicht allzuferner Zukunft eine KI haben, die viel gerechter, viel exakter schiedsrichten kann. Der SR hat ja selber keinen Wert an sich, sondern nur die Aufgabe, für Gerechtigkeit auf dem Platz zu sorgen. Dass er auch ein Spiel führen muss liegt ja nur daran, dass wir so viele Graubereiche in der Bewertung haben, weil wir nicht in die Köpfe der Spieler schauen können, nicht alles sehen können. Es ließe sich durchaus eine allgemeingültige Linie definieren, wenn Maschinen diese Umsetzen müssten, wenn sie eben in der Lage sind, Intensitäten, Intensionen, Ursachen etc. zu erkennen. Aber das ist ja noch Zukunftsmusik.
Aber was spräche dagegen, wenn schon jetzt der VAR sein A verliert und zum Hauptentscheider aufsteigt? Da läuft dann auch gar nicht zwingend mehr einer rum aufm Platz, sondern BigBrother meldet sich spätestens 15-20 Sekunden nach dem Vergehen und sagt, was er entschieden hat. In strittigen Dingern noch mit kurzer Begründung. Fertig. Haben wir das Problem mit dem respektlosen Umgang mit dem Sr aufm Platz im Profibereich auch gleich gelöst.
Im Keller sitzt ein Hauptentscheider, der innerhalb der 15-20 Sekunden seine Entscheidung zu fällen hat. Er wird unterstützt von mehreren Zuspielern, die sämtliche Kameraperspektiven anschauen und fragliche Situationen an den Chef weiterleiten. Sicherlich hart gewöhnungsbedürftig, aber ich denke, durchaus umsetzbar. Bei allen normalen Vergehen wird der Pfiff genauso schnell kommen, bzw. werden die Spieler vielleicht ehr von selbst auch sagen, „sorry, das war ein Foul, der meldet sich sowieso gleich da oben, dann kann ichs auch gleich sagen“.
Ja, der persönliche Kontakt aufm Feld fehlt, die Führungsstärke eines Collinas. Das ist auch ein echter Fallstrick, über den man diskutieren müsste. Aber prinzipiell sehe ich eine persönliche Spielführung nicht als konstitutiv für ein Fußballspiel.
Die Vorteile diese Lösung wären eben: Keine Eingriffsschwelle, mehr Gerechtigkeit auch außerhalb von Strafraum / rote Karte / etc. Weniger Druck auf eine einzelne Person. Und sogar eine Challenge könnte man hier viel natürlicher einbauen, um eine längere, genauere Prüfung zu beantragen.
Das ist jetzt nur das Hirngespinst, das während des SR Segments gewachsen ist, aber ich wollte es euch doch mal zum Fraß vorwerfen. Guten Appetit.